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35Der
Landespatriotismus
über die Quellenbasis der Sprachreform, darüber, ob ein aus dem »gol-
denen Zeitalter« der jeweiligen Nation geschöpftes Renaissanceidiom
oder die aktuelle Umgangssprache als normsetzender Standard gelten
sollten.37 Im Zeichen des Landespatriotismus wurde der barocke Hei-
ligenkult in der Volkssprache ebenso weiter kultiviert, wie die von den
Aufklärern angeregte Übersetzung des klassischen, vor allem lateini-
schen Bildungsguts in die verschiedenen Landessprachen, die einander
dabei zu übertrumpfen versuchten.
Im frühen 19. Jahrhundert blieb der Vaterlandsbegriff also poly-
valent, die politisch-historische Konnotation des Landes wurde stu-
fenweise vom sprachlich-nationalen Begriff aufgesaugt. So sprach der
Prager Oberstburggraf Franz A. Kolowrat-Liebsteinsky 1818 vom Va-
terländischen Museum als Hort der böhmischen Nation, die er politisch
verstand, eine Formel, die der Schriftsteller Josef Jungmann in seinem
Appell an den Protektor des Museums aufgriff und in die Beschwörung
der tschechischen Nation und Sprache ummünzte.38 An dieser Schnitt-
stelle zeigte sich der Schwachpunkt des Landespatriotismus: Die
postulierte Zwei- oder Mehrsprachigkeit war immer asymmetrisch.
Beispielsweise hätte in Kärnten, Krain oder Böhmen eine funktionie-
rende Zweisprachigkeit an die deutschsprachigen Bürger weit höhere
Ansprüche gestellt als an die slawischsprachigen.39 Letztere hatten
das Gymnasium besucht und die dortige deutsche Unterrichtsspra-
che erlernt. Dagegen hielten es die deutschsprachigen Gebildeten für
überflüssig, die Sprachen der niederen Stände zu lernen, deren Beherr-
schung weder kulturelles Prestige noch politischen Nutzen versprach.40
37 Im Falle des Slowakischen wurden diese beiden Präferenzen von den lu-
therischen und katholischen konfessionellen Lagern vertreten: Der Priester
Anton Bernolák, Dozent am josephinischen Generalseminar in Pressburg,
hatte den westslowakischen Dialekt kodifiziert, während die Lutheraner an
der bibličtina festhielten, die sich an der Kralitzer Bibelübersetzung aus dem
16. Jahrhundert orientierte, vgl. Bernolákovské polemiky. I. Anti-Fándly.–
II. Bajzove epigramy [Bernoláks Polemiken, I. Anti-Fándly, II. Epigramme
gegen Bajza], hg. v. Imrich Kotvan, Bratislava 1966.
38 Karel Tieftrunk, Dějiny Matice České [Geschichte der Tschechischen Ma-
tica], Praha 1881, 12-13.
39 Urban Jarnik, Andeutungen über Kärntens Germanisierung [1818], hg. v.
Bodo Grafenauer, Klagenfurt 1984; Jaromír Louzil, Neznámá exhorta
Bernarda Bolzana »O lásce k vlasti a mateřskému jazyku« [Eine unbekannte
Exhorte Bernard Bolzanos über die Liebe des Vaterlandes und der Mutter-
sprache], in: SK 18 /19 (1984), 86-112.
40 Rak, Welche Sprache sprechen die Bohemisten?, 65.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513