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55Das
Weltbürgertum der Völkerfreundschaft
Hormayrs Kreis ihren Affekt gegen Frankreich in die antideutschen,
antihabsburgischen und antikatholischen Rebellionen der Vergangen-
heit umleiteten.92 Die zweite Ausweichoption war die von den Ger-
manen-Topoi aus Montesquieus Tacitus-Lektüre und von Johannes
von Müllers Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft geprägte
Überhöhung des alpinen Raums als schutzbietendes Bergquartier, als
Tempel urwüchsiger und kerniger Freiheit.93
Die Schilderung der Alpen als Hort der Freiheit führte allerdings zu
einer Verräumlichung der Identität. Das Österreichische schrumpfte
so auf die Alpenländer zusammen. Zudem verleitete dieses alpine Frei-
heitsimaginaire zu verräterischen Sprachbildern, welche die eben noch
beschworene Eintracht des Völkerverbandes der Monarchie wieder
suspendierten. Das ist vor allem auffällig, wenn es um die Geschichte
der Länder vor ihrem Zusammenschluss durch das Haus Habsburg
geht: So heißt es in einem Abschnitt des Hormayr’schen Plutarch über
die frühmittelalterlichen Städte als Orte der Selbstverwaltung und Ge-
meinsinns etwa, man sehe in der Zeit der Babenberger
aus dem Gräuel avarischer und magyarischer Verwüstung, in Oes-
terreich, Städte und geschlossene Oerter, wie aus allgemeiner Was-
serfluth Bergspitzen hervorragen, – ein reges gesellschaftliches
Emporstreben aus der Rohheit der Barbarey und aus der rechtlosen
Anarchie einer eisernen Zeit.94
Gab es für die deutschsprachigen österreichischen Liberalen über-
haupt ein eigenes erinnertes Vaterland? Der junge böhmische Literat
Jakob Kaufmann hat in einem Essay aus dem Jahr 1835 diese Zwick-
mühle beschrieben:
Diese Haltlosigkeit, dieses heimatlose Wesen mitten im Schooße
der Heimath, das ist der Wurm, der am Herzen der österreichischen
Muse zehrt. Denkt Euch einen jungen Unterthanen Oesterreichs;
er ist aus irgend einer germanisirten Provinz; trotzdem aber brennt
der Freiheit tragst in alle Herzen […]/ So zieht denn hin, verblutende He-
roen, […]/ Sollt ihr noch andre Völker sterben lehren./«
92 Vgl. Karl Köpl, Palacký und die Censur, in: Památník na oslavu stých naro-
zenin Františka Palackého, Praha 1898, 644-688.
93 Puchalski, Imaginärer Name Österreich, 245.
94 Ebda., 255. Vgl. Pál S. Varga, Hormayrs Archiv und das Programm der Na-
tionalliteratur, in: Ágoston Zénó Bernád, Márta Csire, Andrea Seidler (Hg.),
On the Road – zwischen Kulturen unterwegs, Wien 2009, 215-225.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513