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75Die
theresianischen Reformen
Neuerungen, die man zu Recht als »Gegen-Gegenreformation«17 be-
zeichnet hat, kamen aber nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie
vertieften bereits bestehende Spannungen im von seinen Vorgängern
aufgebauten staatskirchlichen Gefüge.
Hier sollen nun vorerst die theresianischen Reformen unter Berück-
sichtigung ihres kulturellen Rahmens näher bestimmt werden. Dabei
gilt es zunächst, die Scharniere und Bruchstellen zwischen Barock und
Aufklärung zu erfassen, es bedarf also einer Art Schwellenkunde, die
sich auf folgenden Ebenen entfaltet: Zuerst wird hier die reiche und
vielschichtige Gelehrtenkultur der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
präsentiert, die nicht in der Aufklärung aufging und sich nicht unter
dieser Chiffre erfassen lässt (3). Danach wird die Ausgangssituation
des theresianischen Reformprojekts skizziert und die wichtigste Probe,
die dieses Reformwerk zu bestehen hatte, analysiert: Die Entzweiung
zwischen den landesfürstlichen Kirchenregime und seinen anfäng-
lichen Parteigängern, den moderaten katholischen Reformern – jenen
Reformern, denen »Aufklärung« noch kein Anliegen war, oder die
darunter auch weiterhin etwas weiterhin anders verstehen wollten, als
die im neuen Naturrecht und in der Staatswissenschaft ausgebildeten
Beamten. Das wolffianisch inspirierte Staatskirchenrecht Paul Joseph
Rieggers führte zu politischen Kapriolen, es löste diesen Entfrem-
dungsprozess aus (4). Im folgenden Teil geht es um die allmähliche
Verfertigung des Barock als Vergangenheit durch die Aufklärer der
1760er und 1770er: Das Urteil der Aufklärer über die lebensfremde
Barockgelehrsamkeit fiel großmäulig und gehässig aus, sie drückten
ihr den Stempel der Scholastik auf. Zwei Aspekte sind hier bemerkens-
wert: Weder erschöpfte sich die barocke Gelehrtenwelt in der Scholas-
der Verordnung zur Revokation des Klappsargerlasses: »Da Se. Majestät
wahrgenommen haben, daß durch die heilsame Anordnung, vermög welcher
die todten Körper in einem leinenen Sacke ganz bloß und ohne Kleidungs-
stücke eingenähet, und ohne Truhen zur Erde bestattet werden sollen, viele
Gemüther beunruhiget […] so haben Se. Majestät erklären lassen, daß Sie
zu dieser Beerdigungsart keinen Menschen […] zu zwingen denken«, Leslie
Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781-
1795, 2. Aufl., Wien 1995, 246, und der von Pezzl veröffentlichte Original-
wortlaut des Handbillets: »Da ich sehe und täglich erfahre, daß die Begriffe
der Lebendigen leider! noch so material sind, daß sie einen unendlichen Preis
darauf setzen, daß ihre Körper nach dem Tode langsamer faulen, und länger
ein stinkendes Aas bleiben; so ist mir wenig daran gelegen, wie sich die Leute
wollen begraben lassen«, Johann Pezzl, Skizze von Wien, Wien 1786, 38-39.
17 Robert J. W. Evans, The Making of the Habsburg Monarchy, 1550-1700. An
Interpretation, Oxford 1979, 449.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513