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200 Wissenskulturen des Vormärz
Besondere Resonanz entfalteten die Kant’schen Postulate der prakti-
schen Vernunft, etwa die begründete Hoffnung auf eine göttliche In-
stanz, die der unsterblichen Seele nach dem Tod ihr Maß moralischen
Verdienstes vergelte.11 Kants philosophischer Chiliasmus der Perfek-
tibilität des Menschengeschlechts, seine Thesen über den Sündenfall,
das felix peccatum, und seine Neufassung der Frage nach dem Bösen,
die nicht mehr von der privatio boni geprägt war, sondern auf eine
»Realrepugnanz« zwischen Gutem und Bösem hinauslief, wurden
ausführlich und kritisch rezipiert.12
Raschen Eingang fand Kants Lehre dank Klosterbibliotheken, Lo-
gen und Lesezirkeln ebenso wie durch Spezialkollegien, die Kenner der
Kant’schen Philosophie in den Salons adeliger Mäzene und angemiete-
ten Vortragssälen hielten. Einzig im Philosophiestudium gestaltete sich
die offiziöse, lehrplanmäßige Kant-Aneignung stockend. Die Philoso-
phie blieb ja an den habsburgischen Universitäten bis 1848 das propä-
deutische studium generale, die einführende Grundlagendisziplin, die
alle Hörer der drei höheren Fakultäten, angehende Juristen, Theologen
und Mediziner, absolvieren mussten, bevor sie sich ihren Spezialstu-
dien zuwandten.13 Die geglückte Einführung von Kants Lehre als
Fach der Philosophenausbildung hätte insofern eine »kopernikanische
Wende« für die Ausbildung der habsburgischen Intelligenz bedeutet,
aber dieses Vorhaben misslang. Die von Kaiser Franz eingerichtete
Studienrevisionshofkommission brandmarkte Kant nach langwierigen
Diskussionen als Revolutionär. Als Johann Melchior von Birkenstock,
Hofrat und Mitglied der Kommission, dem Kaiser im Jahr 1796 für die
Einführung der Kant’schen Philosophie gewinnen wollte, soll dieser
ihn mit den Worten abgefertigt haben, er wolle »einmal für allemal
Daniela Tinková, Jakobíni v sutaně. Neklidní kněží, strach z revoluce a
konec osvícenství na Moravě [Jakobiner in der Soutane. Aufmüpfige Pries-
ter, Revolutionsfurcht und das Ende der Aufklärung in Mähren], Praha 2011.
11 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, besonders (»Transzendentale Dialek-
tik«), A 567/B595-A642/B670; Moritz Enzinger, Adalbert Stifters Studien-
jahre (1818-1830), Innsbruck 1950, 152-204.
12 Martina Ondo Grečenková, Windischgrätz a Condorcet. Příběh jednoho
osvícenského projektu [Windischgrätz und Condorcet. Geschichte eines
aufklärerischen Projekts], in: ČČH 107 (2009), 569-598.
13 Vgl. zur Autonomisierung und Disziplinierung der Philosophie nach 1848,
die im Rahmen der Thun-Hohensteinschen Studienreform zum eigenstän-
digen Fach wurde und damit ihre Funktion in der Ausbildung und ihren ho-
listischen Erklärungsanspruch einbüßte, Johannes Feichtinger, Wissenschaft
als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen. Österreichische
Wissenschaftsgeschichte 1848-1938, Bielefeld 2010, 143.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513