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216 Wissenskulturen des Vormärz
Führungsriege von Sittenwächtern und Zensoren darüber wachte,
dass sich die Bürger mit Haut und Haar dem »allgemeinen Besten«
weihten.64
Auch Bolzanos Auslegung des Evangeliums, seine Kerygmatik und
seine Sündenlehre, gestatten es, den »Liberalismus« des »Weisen von
Prag« und seiner Schüler nuancierter zu deuten. Häufig wurde Bolzano –
in der Regel auf dürftiger Quellenbasis – als »akkommodistischer« und
»rationalistischer« Neologe, ja als Deist missverstanden.65 In seinen
Schriften zur Religionslehre betonte Bolzano, getreu seinem Fokus
auf das allgemeine Beste, die Nützlichkeit der Glaubenslehren; die
Authentizität dieser Lehren und die Wundertätigkeit ihrer Verkünder
waren sekundär.66 Bolzanos nonchalante Haltung, was die Wunder-
64 Zur ƢƤƯƮƳƱрƠ vgl. Arnold Kowalewski, Einführende Betrachtungen, in:
Bernard Bolzano’s Schriften, III, Von dem besten Staate, hg. v. dems., Prag
1932, vii-xxviii. »Im besten Staate also ist es gebräuchlich, fast alle Vergnü-
gungen nur in Gesellschaft zu genießen und zwar, wer immer das Glück hat,
ein Glied eines häuslichen Zirkels zu sein, sucht seine meisten Vergnügungen
innerhalb dieses Zirkels u. mit den Seinigen zu theilen. Das Gegentheil zu
thun, u. sich z. B. an den öffentlichen Belustigungsorten ohne Begleitung der
Seinigen sehr häufig antreffen zu lassen, wird als Etwas, das nur zur Schande
gereicht, betrachtet«, ebda. 106, weiters 124-125.
65 Kritisch Schrödter, Philosophie und Religion, 137-138, sowie Henning von
Reventlow, Ein orthodoxer Liberaler. Bolzano und die Bibel, in: Siegfried
Löffler (Hg.), Bernard Bolzanos Religionsphilosophie und Theologie. Bei-
träge zum Bolzano-Symposium der Österreichischen Forschungsgemein-
schaft im Dezember 2000 in Wien, Sankt Augustin 2002, 191-222, 206-209.
»Groß und originell war Bolzano, wie ich bald erkannte, aber nur als Logiker
und Kritiker der Grundlagen der Metaphysik […]. In den eigentlichen philo-
sophischen Gebieten, denen der Vernunftkritik und Metaphysik, charakteri-
siert sich Bolzano als später Nachkömmling der deutschen Aufklärung, bzw.
der Schule Leibnizens. Von den gewaltigen Problemen der Vernunftkritik
eines Hume oder Kant ist er innerlich nie ergriffen, ihre rätselhaften Tiefen
sind von ihm nie erschaut worden. […] Als Kritiker Kants, und Schüler
Kants, weiß er viel Kluges zu sagen. […] Naiver Empirist in der Erkenntnis-
begründung, meint er den hauptsächlichen Gehalt der rationalistischen Me-
taphysik (Gottes- und Unsterblichkeitsbeweis) festhalten und genugthuend
erweisen zu können«, Edmund Husserl an Heinrich Friedjung, 27. 12. 1911,
in: Husserliana, Dokumente III, Briefwechsel, Bd. VII: Wissenschaftskorre-
spondenz, hg. v. Karl Schuhmann, Den Haag 1994, 97-98.
66 Das betraf, wie Jakob Frint feststellte, auch Jesus Christus, der aus den Schrif-
ten des Alten Testaments zur Überzeugung gelangte, dass er der Messias sei,
und damit sein Erlösungswerk beginnen konnte, das wiederum die Gläubigen
inspirierte. In beiden Vermittlungssequenzen war nicht die Authentizität des
Überlieferten entscheidend, sondern die praktische und gegenwartsrelevante
Funktion des Rückbezugs. Vgl. Frints Bolzano-Exzerpte: »Auch unser Herr
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513