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285Merkantilismus
und Vernunftrecht
Das belegen etwa die Anlaufschwierigkeiten, mit denen Georg
Buresch im April 1769, sechs Jahre nachdem Sonnenfels die Wiener
Professur angetreten hatte, in Graz sein polizeiwissenschaftliche Lehr-
tätigkeit aufnahm. Dank Buresch sollten für die steirischen Hörer
einige Brosamen vom reich gedeckten Tisch Sonnenfels’ abfallen. Das
innerösterreichische Gubernium erhob gegen das neue Fach den Vor-
wurf der »Freigeisterei«, die Antrittsvorlesung wurde vom »gemeinen
Pöbel« gesprengt. Die bei Buresch vorgefundenen Schriften seines
Lehrers Sonnenfels ließ die Landesregierung beschlagnahmen: Sus-
pekt fand man in der Steiermark, dass Buresch als Polizeiwissenschaft-
ler die »Religion nicht als ein Endzweck, sondern nur als ein Mittel«
betrachte und behaupte, dass »ein Mensch, der die Freygeisterei nur
in seinem Herzen verberget, und so lange sie nicht in äußere Zeichen
ausbricht« kein Ärgernis darstelle.92
Anstößig war die Lehre Sonnenfels’ auch den Vernunftrechtlern,
die sich damals an den Rechtsfakultäten der Monarchie zu etablieren
begonnen hatten.93 Bei den Vertretern des älteren Vernunft- und Na-
turrechts wie Carl A. v. Martini war die Geselligkeit gut wolffianisch
in die Teleologie der Schöpfungsziele eingelassen,94 deshalb beanstan-
deten sie die säkularisierende Sicht Sonnenfels’ auf Triebe und Reize,
auf die Bedürfnisbefriedigung als Triebfeder der Staatsbildung.95 Die
älteren Vernunftrechtler verbanden Recht und Moral: Der göttliche
Gesetzgeber wirke mittels der menschlichen Vernunft auf die Welt,
während die Normadressaten über wechselseitige, unvollkommene
92 Grete Klingenstein, Der Fall Buresch oder die Anfänge der Polizey- und Ka-
meralwissenschaft in Graz, in: Gerhard Pferschy (Hg.), Siedlung, Macht und
Wirtschaft. Festschrift Fritz Posch zum 70.
Geburtstag, Graz 1981, 397-409.
93 Zu Prag die meisterliche Darstellung von Klabouch, Osvícenské právní
nauky v českých zemích, 163-194.
94 Martini führt dabei finalgenetische und kausalgenetische teleologische Qua-
lifikationen für die Schöpfungsziele ein (Materialursachen, Formursachen,
Wirkursachen), Martini, Exercitationes tres. I. De nature statuque hominum
morali; II. De obligatione, lege et iure gentium et singillatim naturali; III.
De legum naturalium principiis et proprietatibus, Viennae 1765, capvt 3,
§ 114, 93-94. Vgl. Maria Rosa di Simone, L’influenza di Christian Wolff sul
giusnaturalismo dell’area asburgica, in: Marta Ferronato (Hg.), Dal »De Jure
naturae et gentium« di Samuel Pufendorf alla codificazione Prussiana del
1794, Padova 2005, 221-267, 238-240.
95 Sommer, Die österreichischen Kameralisten, II, 336, 359. Vgl. Hans Chris-
toph Schmidt am Busch, Cameralism as »Political Metaphysics«. Human
Nature, the State, and Natural Law in the Thought of Johann H. G. von Justi,
in: TEJHPT 16 (2009), 409-430.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513