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396 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
nur die pseudouniversale, sensualistische politische Wissenschaft aus-
gehen.218 Das Szenario einer für alle Zukunft kundgemachten politi-
schen Gesetzgebung war laut Pratobevera eine gefährliche Utopie, die
das Selbsverständnis der habsburgischen Beamtenschaft konterkarierte.
Den Beamten oblag es ja, die Einzelinteressen im Sinne gemeinsamer
Wohlfahrtszwecke219 in einem verschachtelten Gesamtstaat zu koordi-
nieren, in dem die Grunduntertänigkeit ständiger Regulierung bedurfte
und es die Aufsichtsvollmacht des Staates über die katholische Kirche
und die akatholischen »Privatkirchen« wahrzunehmen galt.
Somit stand für Pratobevera außer Frage, dass die Hoheitsakte der
Beamtenschaft zwar nicht von ordentlichen Gerichten aufgehoben
werden konnten,220 dass es aber reguläre Rekurs- und Revisionswege
mit Beweiswürdigung, Zeugenanhörung und Urteilsfindung innerhalb
der Verwaltung geben müsse.221 Die Beamten des Vormärz gingen nun
daran, der bestehenden Behördenorganisation neue Kompetenzfacet-
ten abzugewinnen: So behaupteten sie, dass die Hofkammerprokura-
tur die Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Staatsan-
waltschaft in sich vereinige.
Seit 1783 war der Finanz- und Hofkammerprokuratur als Vertre-
terin der landesfürstlichen Rechte neben der Verwaltung des Staats-
schatzes und des fürstlichen Privatvermögens mit der Aufsicht über
die Befolgung sämtlicher landesgültiger Gesetze betraut.222 Bei den
Hofkammerprokuraturen wurden nunmehr auch die für jedes Land
ernannten Untertansadvokaten angesiedelt, welche die untertänigen
Bauern in allen Prozessen gegen ihre Grundherren vor Gericht un-
entgeltlich vertreten mussten.223 In den einschlägigen Dekreten wurde
218 Vgl. Otto Brunner, Das Zeitalter der Ideologien, Anfang und Ende, in:
ders., Neue Wege zur Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttin-
gen 1968, 45-63, 45-47.
219 Osterloh, Sonnenfels, 54-55, 59.
220 Vgl. Hofdekret, 28. 10. 1815, in: Seiner Majestät des Kaisers Franz Gesetze
und Verfassungen im Justiz-Fache für die Deutschen Länder der Österr.
Monarchie Nr. 1187, Hofdekret, 14. 3. 1806, ebda., Nr. 758.
221 Hock, Bidermann, Der österreichische Staatsrath, 643 (Unterbindung der
Parteienanhörung und unaufgeforderten Begutachtungstätigkeit durch den
Staatsrat).
222 Wolfgang Peschorn, Die Geschichte der Finanzprokuratur, in: Manfred
Kremser (Hg.), Anwalt und Berater der Republik. Festschrift zum 50. Jah-
restag der Wiedererrichtung der Finanzprokuratur, Wien 1995, 15-34, 21.
223 Gebhardt, Advocatus Subditorum; Gubernialdekret, 9. 5. 1823: Verfahren
des Untertansadvokaten, wenn derßelbe von der Vertretung des Untertans
politischerseits enthoben wird, in: Provinzial-Gesetzsammlung des König-
reichs Böhmen für das Jahr 1823, Bd. V, Prag 1824, 158-160.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513