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410 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
liche innere Gesetzmäßigkeit unterlegt.255 Recht und Sprache erschie-
nen den Erforschern der Rechtsaltertümer als Lebewesen, Natur und
Geschichte waren in einer vitalistischen Prozesskausalität verbunden.
Ebenso vielschichtig gestaltete sich in der vormärzlichen Rechts-
geschichte der Umgang mit dem »Naturzustand« und dem »Gesell-
schaftsvertrag« des Naturrechts. Das natürliche öffentliche Recht
begründete die Staatsverbindung der Gesamtmonarchie aus einem uni-
versalen Gesellschaftsvertrag. Das war keine Bagatelle – so zerbrach
sich Joseph II. höchstselbst 1785 den Kopf über das Staatsrechtslehr-
buch, nach dem an der Universität Pest gelehrt werden sollte: Die
vorgelegten Entwürfe fand der Kaiser allesamt unbrauchbar, weil
sie falsche Begriffe aufstellten. Wie Joseph damals dem zuständigen
Gremium in Pest einschärfte, leiteten sich die Fundamentalgesetze des
Königreichs Ungarn nicht von der heiligen Stephanskrone, sondern
von den allgemeinen Prinzipien des natürlichen Staatsrechts her, in
diesem Sinne sei das Lehrbuch zu gestalten.256 Die offizielle Ausle-
gung der einschlägigen Schlüsseltexte Martinis und Eggers besorgten
die Sachverständigen an den Universitäten, ein Deutungsmonopol
besaßen sie dabei freilich nicht. So büßte der Gesellschaftsvertrag, der
die Gesamtmonarchie begründen sollte, um 1800 in zweierlei Hinsicht
seine Alleingültigkeit ein, ohne dass dies die Wirkmacht der Vertrags-
figur geschmälert hätte: Zum einen wurde er vom Verzichtskontrakt,
mit dem die Untertanen die Wahrung ihrer natürlichen Rechte auf
den Monarchen übertrugen, zu einem Teilhabevertrag, den die Bürger
selbst aktiv gestalten konnten. Der aus dem Banat stammende serbi-
sche Polyhistor und patriotische Mäzen Sava Tekelija etwa verstand in
seiner Pester Dissertation von 1786 den Gesellschaftsvertrag als wider-
rufbare Delegierung unveräußerlicher Urrechte.257 Zum anderen ver-
255 Ulrich Wyss, Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus,
München 1979, 61.
256 Ferenc Eckhart, A jog- és államtudományi kar története [Geschichte der
Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät] [A Királyi Magyar Páz-
mány Péter Tudományegyetem története, 2], Budapest 1936, 149-150.
257 Sava Tekelija, Dissertatio Iuridica de Causa, et Fine Civitatis, una cum
Positionibvs ex universa iurisprudentia […], Pestini 1786, 29, § 25, 30, § 26;
Benjámin Nánásy, Testamentom á magyar országi törvények szérent [Das
Testament gemäß den ungarischen Gesetzen], Pest 1798, VI-VIII; Rolin,
Der Ursprung des Staates, 31, 36, 43 (stillschweigend-konkludenter Ver-
tragsabschluss), vgl. aber Adler, Die politische Gesetzgebung, 108 (Vortrag
Martinis v. 3. 5. 1794 zur Vorlegung seines Gesetzesentwurfes, es gehe auch
darum, »den Begriff zu zerstören, als ob der gesellschaftliche Zustand alle
natürlichen Rechte vernichte«).
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513