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416 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
dem »Geist der Gesetze«269 ihres jeweiligen Vaterlandes entsprangen.
Bei aller behaupteten Einzigartigkeit und Eigenständigkeit waren diese
Spezifika freilich alles andere als unverwechselbar. So benützten etwa
die Prager und Wiener Rechtshistoriker des frühen 19. Jahrhunderts
bei ihrer Arbeit dieselben taciteisch-rousseauistischen Topoi (freies
Bauerntum, Allmendenbesitz, Wahlkönigtum, Volksversammlun-
gen, Geschworenengerichtsbarkeit), fügten sie aber als »altslawische«
oder »altgermanische« Freiheit in einander ausschließende historische
Epochen und nationale Entwicklungsreihen ein.270 Als Vertreter der
slawischen und deutschen »Völker« sprachen sie einander diese – ana-
log modellierte – Urfreiheit ab und machten sich wechselseitig für die
Verwirkung der jeweils eigenen ursprünglichen Freiheit verantwort-
lich. So geschah es etwa mit prononciert antislawischer und anti(neu-)
fränkischer, also antifranzösischer Note bei Friedrich Schlegel in des-
sen Wiener Vorlesungen über die neuere Geschichte aus dem Jahr 1810
und, in diametraler Absicht, als Überhöhung der slawischen Urfreiheit,
bei František Palacký in seiner Geschichte Böhmens ab 1836.271
Eben diese Konfliktstruktur wiederholte sich unter veränder-
ten Vorzeichen im Neoabsolutismus der 1850er Jahre: Damals ging
es darum, nach 1848 wünschenswerte Verfassungsformen historisch
abzusichern. Die aufgeheizte postrevolutionäre Schuldzuweisungs-
Symmetrie führte dazu, dass selbst konservative Großösterreicher aus
verschiedenen Ländern die monarchische Verfassung, die sie historisch
zu belegen suchten, nicht mehr kohärent interpretieren konnten, weil
sie diese exklusiv »deutschen« oder »slawischen« Ursprüngen zuord-
neten. Die Monopolisierung des Königtums als historisches Faktum
der eigenen Nationalgeschichte nutzten die slawisch- und deutsch-ös-
terreichischen Historiker dazu, um polemisch die »Übernahme« dieses
ursprünglich fremdartigen Elements in die Urverfassung des jeweils
anderen nachzuweisen.272
Schließlich waren es die Austroslawisten des Vormärz, die der Fi-
gur des Gesellschaftsvertrags – sie blieb ja ein Kernstück des an den
Universitäten gelehrten natürlichen öffentlichen Rechtes – eine be-
269 Nikolaus Adaukt Voigt, Über den Geist der Böhmischen Gesetze in den
verschiedenen Zeitaltern. Eine Preißschrift, Dresden 1788, 5-8; kompakt
Jan Adamus, Wacław Aleksander Maciejowski und das Programm der slavi-
schen Rechtsgeschichte, in: PHP 3 (1933), 92-125.
270 Vgl. Kap. I.2.
271 Fillafer, Jenseits des Historismus, 97.
272 Vgl. Kap. I.6.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513