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442 Naturrechtspraxis und Empire-Genese
Sittlichkeit und Humanität auch auf dem Rechtsgebiete zur Gel-
tung kommen,‹ und wenn man von dem ›Fortschritte‹ spricht, der
sich in der Erhebung des Sittengesetzes zum Rechtsgesetz, in der
Umkleidung der Forderungen der Sittlichkeit mit einem Rechts-
schutz kundgibt.369
Unger führte in seinem System aus, dass das Eherecht nicht in
den Bereich des Rechts, »sondern zum Gebiete der Natur und der
Sittlichkeit«370 gehöre. Bergers Kritik an dem hier geübten Verzicht
auf die vernunftgemäße Statuierung allgemeiner Rechtsbegriffe muss
im Lichte der Zeitumstände beurteilt werden: Ungers Rede von der
»Erhebung des Sittengesetzes zum Rechtsgesetz« hatte 1856, wenige
Monate nach der Einführung des Konkordats, das Kaiser Franz Jo-
sef mit dem Heiligen Stuhl abgeschlossen hatte, einen schalen Bei-
geschmack.371 Das Jahr 1856 brachte die Wiedereinführung des ka-
nonischen Eherechts für die Katholiken, durch das die Partien des
ABGB, welche die Katholikenehe regelten, bis zu den Maigesetzen
des Jahres 1868 außer Kraft gesetzt bleiben sollten. Das »Sittengesetz«
wurde hier zum Codewort für die Erneuerung der kirchlichen Ein-
flussnahme im Eherecht.
Dass die applikative Hermeneutik des justinianischen Corpus, die
das ABGB »pseudohistoristisch«372 mit einer neuen Begriffsstuckatur
versah, als historische Methode der »rationalistischen« exegetischen
»Schule« gegenübergestellt wurde, ist aus situativen Gegebenheiten
der Gelehrtenpolitik zu verstehen. Eine wissenschaftsgeschichtliche
Sortieranleitung im Sinne der Gegenüberstellung von »Rationalis-
mus« und »Historismus« ist daraus nicht zu gewinnen, auch eine
Kontrastierung von »liberalem« Naturrecht und »reaktionärer«
Rechtsgeschichte lässt sich hieraus nicht ableiten.373 Den »Exegeten«
und den »Pandektisten« war der liberale Leitsatz der bürgerlichen
Gesellschaft, die Gestaltungsfreiheit der Privatrechtsverhältnisse als
»fest begränztes Gebiet individueller Freiheit, worin sie unbedingt zu
herrschen hat«374 gemein. Dass bei den Pandektisten dem »liebevollen
369 Ebda., 35.
370 Unger, System I, 216.
371 Vgl. Erika Weinzierl-Fischer, Die österreichischen Konkordate von 1855
und 1933, Wien 1960, 250-258.
372 Ogris, Die historische Schule der österreichischen Zivilistik, 364.
373 So etwa Goller, Winiwarters Verteidigung von Karl Anton Martinis natür-
lichem Staatsrecht, 554.
374 Vgl. Boris Schinkels, Normsatzstruktur des IPR. Zur rechtstheoretischen
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513