Page - 447 - in Aufklärung habsburgisch - Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
Image of the Page - 447 -
Text of the Page - 447 -
447Ergebnisse
2. Naturrecht und Gesamtmonarchie
Welche Rolle spielte das Naturrecht für die Integration des »Gesamt-
staats«? In den 1750er Jahren wurde es als Mittel zur Flurbereinigung
der Normbestände eingesetzt: Der universale Urvertrag legitimierte
die Gesamtmonarchie, die Überlieferungen der Kirche und der Länder
wurden zum Partikularrecht quasi-privatrechtlicher Korporationen
herabgestuft. Dabei ließ sich das Naturrecht aber keineswegs auf ge-
samtstaatliche Argumente festlegen, es war kein Bündel von Doktri-
nen, sondern eine »politische Sprache«, die spezifische Codes, Begriffe
und Darlegungsmodi vorgab. In Konkurrenz zum überwölbenden
Urkontrakt präsentierten sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts
die Stände der Königreiche und Länder als Mandatsträger eines von
ihrem jeweiligen Landesvolk geschlossenen Gesellschaftsvertrags.
Dieses Modell der Landstände als Mandatsträger trat zunächst
durch den wirkmächtigen privatisierenden Sog des Naturrechts ab den
1790er Jahren in den Hintergrund: Damals überschnitt sich in den
Erbländern die von Zeiller glücklich bewerkstelligte postrevolutionäre
Entpolitisierung des Naturrechts mit der von den Ständen zunächst
akzeptierten Privatisierung ihrer legitimen Herrschaftsteilhabe. Im
Schatten der Französischen Revolution begannen die ständischen Her-
ren ihre Souveränitätsteilhabe aus dem Grundeigentum und aus dessen
Schutzwürdigkeit abzuleiten. Viele ständische Deputierte übernah-
men die einst zur Entmachtung ihrer Großväter und Väter geprägte
naturrechtliche Definition ihres politischen Status als Privateigentü-
mer, münzten sie aber in exklusive politische Rechte um, die Bürger,
Bauern und Andersgläubige von der Teilhabe an der Regierung des
»Landes« fernhalten sollten. Aus dieser Konstellation erklärt sich
die politische Aufladung des Zugriffs auf landtäfliche Güter seit den
1790er Jahren, das ständische Einstandsrecht sollte Nichtadelige und
Nichtkatholiken weiterhin ausschließen. Die nachhaltige Befreiung
des Eigentums von sozialen Bindungen und regionalen Beschränkun-
gen ließ sich auf diese Weise nicht mehr verhindern, deshalb führte die
Berufung der Stände auf den Spezialstatus ihrer landtafelfähigen Güter
als Kronlehen auch nicht zum gewünschten Erfolg: Sobald die Stände
im frühen 19. Jahrhundert auf größere Vollmachten, auf Ratifikations-
oder Begutachtungsbefugnisse der landesfürstlichen Gesetze drangen,
wurde ihnen von der Obersten Justizstelle und den Hofbehörden
schadenfroh entgegengehalten, sie repräsentierten nur sich selbst.
Damit war die Figur des Gesellschaftsvertrags aber nicht aus der
Welt geschafft. In den öffentlich-rechtlichen Lehrbüchern, nach de-
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513