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462 Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr
Prinzipien verbreite.27 Die Frage nach den Ursprüngen der Revolution
blieb aber deshalb brisant und aktuell, weil man aus der Geschichte
Frankreichs Lehren für die Zukunft der habsburgischen Länder ab-
leiten zu können glaubte. Die Josephiner betonten weiterhin, dass ein
Defizit, nicht etwa ein Überfluss an Aufklärung die Revolution in
Frankreich ausgelöst habe: Joseph II. hätte die bedeutendsten Errun-
genschaften der liberalen Phase der Revolution bereits auf unblutigem
Wege in den habsburgischen Ländern verwirklicht. Für die Josephiner
hatte sich die Aufklärung bewährt, sie war die beste Garantie für die
Sicherheit des Throns.
Im Jahr 1796 übernahm Sonnenfels zum zweiten Mal das Rektorat
der Universität Wien. Anlassgerecht sprach er in seiner Antrittsrede
von den »engelreinen Sitten« und der »himmlischen Seelengüte« des
Kaisers Franz, was sich im Jahr nach den Jakobinerprozessen durch-
aus als vergiftetes Kompliment deuten ließ:
Wie damals Theresia, so ziert heute den Thron Theresiens würdiger
Enkel, dessen engelreine […] Sitten, dessen himmlische Seelengüte,
dessen gerader Sinn und Herzen gewinnende Offenheit, dessen alle
Stände, alle Bürger gleich schützende Gerechtigkeit, gleich um-
fassende Liebe den scharfprüfenden Blick der Wissenschaft nicht
scheut […] Nur unter einem Domitian wurden die Weltweisen ver-
folgt, verwiesen. Das Ungeheuer fand in ihren Lehren eine bestän-
dige Strafrede seiner Schandthaten. Die Hörsäle der Weltweisheit
wurden zahlreich besuchet, die Weisen lebten unter Titus Regie-
rung ruhig, und geachtet […] er besorgte nicht dass der Lobspruch
der Gerechtigkeit und Güte aus ihrem Munde als Satire auf ihn
gedeutet werden möchte. Gleich dem römischen, wird Österreichs
angebeteter Titus über Wissenschaften […] stets seinen mächtigen
Schutz verbreiten.28
27 Kutnar, Reakce státu v Čechách na Velkou revoluci francouzskou, 323;
Květa Mejdřická, Čechy a francouzská revoluce [Böhmen und die Französi-
sche Revolution], Praha 1959, 152; Kann, Kanzel und Katheder, 260.
28 Joseph von Sonnenfels, Gelegenheitsrede, als der wirkliche k. k. Direktorial-
Hofrath abermal zum Rektor der Universität in Wien gewählt wurde, in:
MKL 4, Heft 1 (1796), 80-92, 88. Hier weiter über Kaiser Franz: »Die Rotte
der Vernunftantipoden beleidigt seinen geschätzten Namen, da sie nichts
unversuchet läßt, den Argwohn anzubringen, als könnte er ihre Entwürfe
begünstigen, oder irgend ihre Bemühungen unterstützen. Die Verläumder!
Unmöglich kann ein Mann von seinem Geiste seinem Anspruch auf die öf-
fentliche Achtung sich auf solche Art verzeihen, er trägt seinen Blick über
das Ziel seines Lebens, hinaus in die ferne Zukunft […]«, ebda., 90. Son-
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513