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494 Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr
habsburgischen Ländern immer mehr jener in Frankreich zu ähneln.
Mittels dieser Strategie, die sich aus dem vormärzlichen Kontext
der Revolutionsbekämpfung ergab, ließ sich die Aufklärung in ganz
Europa als Nachahmung der französischen Kultur und als Vorstufe
der Revolution präsentieren.
In der restaurativen Debatte über die Revolution wurden zentrale
Denkfiguren der Aufklärung adaptiert und umfunktioniert: Im Zuge
der Verschwörungsobsession der 1780er und 1790er Jahre wandte
sich die Furcht vor den heimtückischen Machenschaften der Jesuiten,
deren »geheime« und »auswärtige« Obere den Orden aus dem Halb-
dunkel steuerten, gegen die Aufklärer. Die Freimaurer galten alsbald
als Tarnorganisation für die noch gefährlicheren Illuminaten, nach
1789 schließlich als Filialen der französischen Jakobiner: So wurde
aus einer Verschwörung der katholischen Kirche gegen die Vernunft
und den Monarchen eine Verschwörung der Vernunft gegen Kirche
und Staat. Dazu trat das alte aufklärerische Szenario der Verfeinerung,
des adoucissement des mœurs, das seit den 1790er Jahren freilich als
»Überfeinerung« umgewertet und in die Genealogie der Revolution
eingebaut wurde. Seit der Revolution verband sich dieses Argumen-
tationsmodell mit dem Paradigma der Diffusion der Aufklärung, die
von Frankreich ausging: Die Aufklärung wurde hier als Eindringling
dargestellt, der die jeweilige eigene Kultur und Nation gefährdete, weil
er ihnen wesensfremd war. Eine weitere Umprägung von Denkfiguren
der Spätaufklärung lässt sich an der Gleichsetzung von »Despotismus«
oder »Absolutismus« und Revolution ablesen. Was die Josephiner noch
mit positiver Wertung behauptet hatten, dass nämlich der absolute
Monarch die Errungenschaften der Revolution gewaltfrei durchsetzte,
wurde nun im Vormärz mit pejorativer Absicht wiederholt: Der Topos
der »Revolution von oben« bekam so eine polemische Stoßrichtung.
Die Opferkonkurrenz des Jahres 1848 war gleichermaßen eine
Erinnerungskonkurrenz, an der Selbstviktimisierung beteiligten sich
alle politischen Gruppen mit Ausnahme der alten Josephiner. Man
sah sich jeweils selbst als Hauptleidtragenden des vormärzlichen Re-
gimes, die politischen Gegner waren Nutznießer oder Satelliten des
verhassten »Systems« gewesen. Zwar wollte niemand am verflossenen
Regime anstreifen, so allgemein aber das Distanzierungsbedürfnis war,
so verschieden waren die geschichtspolitischen Strategien, die sich da-
mit verbanden. Die »Opfer« des alten Regimes lehnten dasselbe aus
gegensätzlichen Beweggründen ab. Angelegt war dieser Gegensatz in
der Zeitdiagnostik des Vormärz selbst: Die Restauration wandte sich
programmatisch gegen Aufklärung und Revolution, wie wenig diese
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513