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507Überblick
Das Naturrecht war kein Magazin festgefügter Doktrinen, viel-
mehr bildete es einen Modus der Argumentation, eine »politische
Sprache« mit einem Kernrepertoire an Formen und Figuren: Dazu
zählen der Vertrag als rechtsbegründendes Moment, die behauptete
»Natürlichkeit« von Normen, die somit all jenen Gesetzen überlegen
waren, denen dieses Merkmal fehlte, sowie zuletzt die Annahme eines
Naturzustandes als Zurechnungsendpunkt, an dem die Verhältnisse
der Gegenwart gemessen wurden. Als Legitimationsmodus war das
Naturrecht politisch multifunktional, mit ihm ließ sich die Allgewalt
des Monarchen ebenso begründen wie die Volkssouveränität. In der
Habsburgermonarchie war das Naturrecht unentbehrlich für die juris-
tische Bewältigung imperialer Vielfalt. Schon im Prozess der Rechts-
vereinheitlichung seit den 1750er Jahren fungierte das Naturrecht
als Supernorm, welche die einzelnen Landesgesetze überwölbte und
ineinander übersetzbar machte, für die Kodifizierung des Privatrechts
besaß es also eine Scharnierfunktion. Dem selben Zweck diente das
natürliche öffentliche Recht, das bis 1848 an den Universitäten als
Grundlagenfach vorgetragen wurde: Carl Anton von Martinis Lehr-
buch leitete den Staat aus einem abstrakten, universalen Gesellschafts-
vertrag ab und lieferte damit eine kulturneutrale Gründungserzählung
für die heterogene Monarchie. Mittels des Naturrechts ließen sich
Begründungen der bürgerlichen Rechte, der Herrschergewalt und der
Gesellschaft verdrängen, die sich aus der Konfession, der Rechtgläu-
bigkeit der Katholiken, oder aus der Eigenstaatlichkeit der habsburgi-
schen Länder speisten.
Seine Bewährungsprobe sollte das Naturrecht im Zeitalter der
Französischen Revolution bestehen: Damals glückte es dem feder-
führenden Endredakteur des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs
(ABGB) von 1811, Franz von Zeiller, das natürliche Privatrecht als
Königsdisziplin der Gesetzgebungskunst in der Habsburgermonarchie
zu verankern. Gegen die Vorbehalte des Kaisers und der Hofbehörden,
die befürchteten, mit dem Naturrecht würde den Juristen das Gift der
Revolution in die Ohren geträufelt, präsentierte Zeiller das natürliche
Privatrecht als vordergründig metapolitisches, zweckfreies und be-
gründungsautonomes Normsystem. So stilisierte Zeiller das ABGB für
freie und vernunftbegabte, aber erzloyale Bürger zu einem Bollwerk
gegen die Revolution, während er zugleich das Recht aus sich selbst
begründete, womit er die Herleitung der Gesetze von Gott und vom
Monarchen kappte. Vernünftigkeit und Systemhaftigkeit wurden von
Attributen der Natur zu Attributen des Gesetzbuches und der Gesetz-
gebungswissenschaft selbst. Zugleich griff Zeiller die Anregungen des
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513