Page - 98 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

98 März 1872 5 10 15 20 25 30 35 40 21. WZ 1872, Nr. 69, 24. März Feuilleton. Wiener musikalische Revue. Von A. W. Ambros. (Die italienische Oper. – Adelina Patti. – Fräulein Tremel.) „Italienische Musik muß man unter italienischen Menschen genießen – deutsche genießt sich freilich überall gleich gut.“ Diese Worte schrieb Robert Schumann in einem seiner sogenannten „Schwärmbriefe“ im Jahre 1835. Die Welt im Ganzen und Großen war aber damals anderer Meinung. Italienische Musik, meinte sie, könne man allüberall mit Genuß oder vielmehr mit Entzücken hören, in St.  Petersburg so gut wie in Neapel, in London so gut wie in Rio Janeiro; deutsche Musik genieße sich aber überall gleich übel und daher besser gar nicht. Es waren die Jahre, wo die schroffe und feindselige Trennung zwischen deutscher und italie- nischer Tonkunst, wie sie seit C.  M. v.  Weber und Rossini bestand, schroffer und feindseliger war als je. Es galt in der damaligen Gesellschaft so zu sagen als Glau- bensartikel, daß die italienische Oper allein ein ihrer würdiges Kunstobject sei. Deutsche Musik und ihre Vertreter wurden mit auffallend zur Schau getragener, insigner Geringschätzung behandelt – sie galt für langweilig, schwerfällig, unme- lodisch, aber allerdings nach dem Generalbaß (!) tadellos. Eine Dame, die im Pariser Conservatoire eine Beethoven’sche Symphonie gehört, redete davon mit Begeisterung, fügte jedoch ad salvandam animam gleich hinzu: „was sie aber dort daraus machen, ist gar nicht mehr Beethoven“. Dieselbe Dame fragte in einem befreundeten Hause, nachdem man eine Gluck’sche Scene am Klavier gesungen, „wer denn dieser Gluck gewesen sei“, und nahm von der Hausfrau die (allerdings richtige) Belehrung entgegen: „es sei ein alter Componist aus der Zeit Marie Antoinettens“. Solcher Züge aus jener Epoche könnte ein Memoirenschreiber viele zusam- menbringen. Selbst Rossini, von dem diese ganze Bewegung eigentlich ausgegan- gen, war schon halb und halb in die apotheosirende Ferne eines „Classikers“ zu- rückgetreten. Daß Bellini so jung starb, kam seinem Ruhme eigentlich zugute und war für ihn eine Verklärung mehr. Die italienischen Blätter erinnerten an Raphael Sanzio, „Norma“ galt als der Gipfel höchster musikalischer Tragik, als Prototyp des musikalisch Erhabenen. Donizetti, der jetzt das Operntheater allein und ohne Widerrede beherrschte, rollte, figürlich zu sprechen, vor der Welt das Tuch aus der Vision des Apostels „voll reiner und unreiner Thiere“ auf, das heißt: er sendete eine Partitur nach der anderen in die Welt, wo fast jedesmal glänzende Züge eines höchst bedeutenden Talentes mit liederlich gesudelten Partien abwechselten. Um über eine Donizetti’sche Oper ein billiges und gerechtes Urtheil zu fällen, gab es kein anderes Mittel, als eine Art musikalischer Bilanz zu ziehen, die trefflichen Stellen als Activa und ebenso die werthlosen Füllstücke als Passiva zu summiren und nach der Differenz beider dann zu entscheiden, ob hier eine musikalische Crida vorhanden sei oder ob und welchen Gewinnes man sich freuen dürfe.