Page - 359 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

359 Jänner 1873 5 10 15 20 25 30 35 40 92. WA 1873, Nr. 2, 3. Jänner Feuilleton Musikalische Revue. (Das vierte philharmonische Concert und Beethovens neunte Symphonie.) Von A. W. Ambros. Das scheidende Jahr konnte sich musikalisch unmöglich besser von uns verab- schieden, als mit Beethovens neunter Symphonie im vierten philharmonischen Concert. Damit wäre eigentlich nicht weiter nöthig von der Sache zu sprechen; wir kennen die neunte Symphonie und wir kennen die Aufführungen der Philharmo- niker. Sagt man: neunte Symphonie, so ist es, als sage man: die ägyptischen Pyra- miden; der Thor, welcher dazu noch mit wichtiger Miene eigens versichern wollte, die Pyramiden seien sehr groß, würde ausgelacht. Und was die Aufführungen in den philharmonischen Concerten betrifft, so sind sie mit Recht der Stolz und die Freude des musikalischen Wien. Die Symphonie ist am Ende so populär geworden und der Antheil daran so groß, daß selbst schon zur Generalprobe, zu welcher Eintrittskarten ausgegeben worden waren, der Zudrang ein außerordentlicher war, im gedrängt vollen Saale bemerkten wir eifrige Partiturleser und sogar Partitur- leserinnen. Mit dem zunehmenden Verständnisse des Werkes hat die Liebe und Bewunderung dafür zugenommen. Es ist bei dem heutigen Stande der Dinge lehr- reich und lustig genug, die ersten Verdicte der Recensenten und Correspondenten darüber zu lesen, welche Herr v. Lenz in seinem Beethoven et ses trois styles zusam- menzustellen sich die Mühe gegeben hat. Besonders im musikalischen Sarastro- und Weisheitstempel der „Leipziger allgemeinen Musikzeitung“ herrschte große Erbitterung. „Es ist“, schrie die Gute nach einer Aufführung im Jahre 1826, „als ob die Musik auf dem Kopfe gehen sollte und nicht auf den Füßen.“ Im letzten Satze „feiern die Geister der Tiefe (!) ein Fest des Hohnes über Alles, was Menschenfreu- de heißt“. Zwei Jahre später wird die Symphonie „eine höchst merkwürdige Ver- irrung des durch seine gänzliche Gehörlosigkeit unglücklich gewordenen Mannes“ genannt – und ein Londoner schreibt über sie: „Die heißesten Bewunderer Beet- hovens, wenn sie nur etwas Vernunft besitzen (!), müssen bedauern, daß sie zur Oeffentlichkeit gebracht worden ist; die Freunde, welche Beethoven gerathen ha- ben, dieses absurde Stück herauszugeben, sind sicher die grausamsten Feinde sei- nes Rufes.“ Damit war die Symphonie abgethan und erledigt. Natürlich, ein Kunstwerk mag himmelhoch und meerestief sein, das Adlerauge der Recensenten dringt gleich beim ersten flüchtigen Blick bis zum höchsten Nebelfleck und zum tiefsten Abgrund (nur sehen sie leider selten, was ihnen vor der Nase liegt); dabei sind die Herren eiskalt wie Gletscher, damit man meine, sie seien eben so hoch und ragen über die platte Welt hinauf in den Himmel, und sie geberden sich, als hätten sie Alles, was man ihnen bringt, schon früher zehn Mal besser gewußt und zehn Mal vortrefflicher gesehen. Nun, der „durch seine gänzliche Gehörlosigkeit un- glücklich gewordene Mann“ hat am Ende gegen die Leipziger, die Londoner und gegen alle Welt Recht behalten. Zustimmende Aeußerungen wurden nach und