Page - 336 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

336 Dezember 1872 5 10 15 5 10 sein, von dessen Erfolg bei Kritik und Publicum es abhängen werde, ob die junge Dame den Beruf einer Concertsängerin wählen solle oder nicht. Eine Lebensfrage von einer einzelnen Leistung, welche zufällig glücken oder mißglücken kann, abhängig zu machen, hat sein Bedenkliches und schon der Eremit im „Freischütz“ protestirt gegen den Probeschuß. Auch hat es ferner sein Bedenkliches von Seite der Kritik, auf eine solche Frage kurz mit Ja oder Nein zu antworten; schwer ins Gewicht fallende Folgen knüpfen sich an die kurze Antwort, welche zu geben immer eine Gewissenssache bleibt. Bei Frl. Fillunger glauben wir indessen mit einem herzhaften „Ja“ ohne weitere Scrupel antworten zu dürfen. Ein nicht ge- wöhnlich schöner Stimmfonds ist da, eine solide Ausbildung (durch die bewährte Lehrerin Frau Marchesi) ist da, aus dem Vortrage spricht geistvolle Auffassung der jedes maligen Aufgabe und wirkliche, nicht künstlich gemachte oder herein- reflectirte Empfindung. Frl. Fillunger wird, wie sich von selbst versteht, ihre Stu- dien fleißig fortsetzen. „Beharrlichkeit führt zum Ziele“ war C.  M. v.  Webers Wahlspruch. Rezensierte Veranstaltung Konzert von Marie Fillunger, 27. November 1872, MVkl. Erläuterungen 1 Fillunger] Marie Fillunger (1850–1930), Sopran; 1869–1873 Studium am Konservatorium der GdM und später an der Musikhochschule in Berlin, Auftritte vor allem in Holland, der Schweiz und London, in den 1890er Jahren auch in Australien und Südamerika. ◼ 18 Wahlspruch] u. a. im Stammbuchblatt für einen unbekannten Adressaten vom 12. August 1821, in: WeGa Briefe <http://weber-gesamtausgabe.de/A041772>, Version 3.1.0 vom 30.06.2017, letzter Zugriff 04.07.2017. 87. WZ 1872, Nr. 279, 5. Dezember Feuilleton. Musikalische Revue. Von A. W. Ambros. Der Sonntag brachte uns das zweite Philharmoniker-Concert. Es war also hoher musikalischer Festtag. Die vielleicht brillanteste aller Orchestercompositionen, Webers „Oberon“-Ouverture, leitete ein, vom Orchester mit glänzender Virtuosi- tät gespielt. Darauf ein „neues“, das heißt bisher unbekannt gewesenes Klaviercon- cert von Mozart. Es ist recht gut, daß uns Leute wie Mozart und Franz Schubert aus dem Jenseits in Anbetracht der musikalischen sieben mageren Jahre, in denen wir nach den früheren sieben fetten leben, mit Novitäten versorgen. Mozarts Kla- vierconcerte, für die schwächeren Instrumente seiner Zeit berechnet, verhalten sich gegen die späteren und modernen wie etwa Brüsseler Spitzen gegen schweren Lyoner Seidenstoff. Diese feine Broderie an Passagen u. s. w. verlangt, wie jeder Mozart-Spieler wissen wird, eine vollendete Meisterschaft in Beherrschung des