Page - 259 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

259 Oktober 1872 5 10 15 20 25 30 35 40 65. WZ 1872, Nr. 227, 3. Oktober Feuilleton. Zur kommenden Musiksaison. Von A. W. Ambros. Ganz unverkennbar steht das Musikleben der Großstädte, und folglich auch das Musikleben Wiens, der musikalischen Großstadt par excellence, mit dem Jahres- laufe der Sonne in ganz directem Zusammenhang. „Wie in der Ordnung ist“, wür- de dazu Creuzer oder ein anderer auf Symbolik gestellter Mythologe bemerken, „ist denn Apollon, der Sonnengott, nicht zugleich auch der Musikgott?“ Und es thut dieser Auffassung in der That nicht wenig Vorschub, daß, je beschäftigter Apoll in seiner Eigenschaft als Gott der Sonne ist, er um so weniger Zeit und Muße für sein Amt als Gott der Musik behält und umgekehrt. Mit der Sonnen- höhe im „Krebs“ und dem tiefsten Stand im „Steinbock“ steht die Musikhöhe ganz unverkennbar im umgekehrten Verhältniß, und das Frühlings-Aequinocti- um kündigt das Ende der Musiksaison so gut an wie das Herbst-Aequinoctium ihren Wiederanfang. Wenigstens gewinnen wir, wenn die Sonne in das Zeichen der Waage tritt, schon ganz bestimmte Aussichten, ob die kommende Saison eine gute zu werden verspreche oder nicht. Für diesmal scheinen sich die Dinge gut und sogar glänzend gestalten zu wol- len. Clara Schumann ist uns angekündigt, zusammen mit Frau Joachim; ferner Mary Krebs, die nach zweijährigem Siegeszuge durch Nord-America kürzlich in’s „alte Europa“ (wie man jenseits des Oceans zu sagen pflegt) zurückgekehrt ist, dann der tüchtige Geigenkünstler Lauterbach und sein Collega Wilhelmi, dazu das Quartettum recurrens, nämlich unsere stets wiederkehrenden und stets gerne gesehenen und gehörten „Florentiner“, die musikalische Quadrupel-Allianz Becker, Masi, Chiostri, Hilpert – und wer weiß, was alles von „zugereisten“ Kunst- größen einstweilen noch in der Zeiten Hintergrunde steht! Auch die heimischen Kräfte werden ein reges Leben zeigen; die Philharmoniker, welche dem Hausvater im Evangelium gleichen, der „aus seinen Schätzen Altes und Neues hervorholt“, werden uns unter der siegesgewissen Führung ihres Feldherrn Dessoff Werke der Classiker und Novitäten bringen und die Gesellschaftsconcerte versprechen uns nichts Geringeres als Händels „Saul“ und sein Dettinger „Te-Deum“, dazu zwei Cantaten von J.  S. Bach – und so weiter – alles dieses geleitet von Johannes Brahms, dem Musiker, dessen große Bedeutung einst Robert Schumann freudig erkannte, da ihm Brahms als schüchterner Jünger entgegentrat, und den – wir wagen es zu prophezeien – als Componist die Nachwelt tiefer und reiner würdigen wird, als die Gegenwart thut, deren musikalische Parteizänkereien, welche heut- zutage Himmel und Erde erschüttern, dann vermuthlich nur noch in einer künftig zu schreibenden „Geschichte menschlicher Thorheiten“ (gleichsam einer negativen Culturgeschichte) ein Capitel füllen werden. Clara Schumann hat Ursache, Wien immer wieder als die Wiege ihres Ruhmes dankbar aufzusuchen. Hier feierte die achtzehnjährige Clara Wieck aus Leipzig