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Joseph Lanner – Leben und Werk
Musik freunde Wien gehörte die Nachwuchspflege, die an einem eigenen Konservatorium durchgeführt
wurde, und deren Zöglinge sich jedes Jahr in Prüfungskonzerten öffentlich präsentieren mussten. Un-
ĂĽbersehbar und kaum dokumentiert sind die vielen Privatlehrer, die sich oft mĂĽhsam SchĂĽler suchen
mussten und mehr schlecht als recht von ihrer Unterrichtstätigkeit leben konnten. Wer konnte, suchte
eine feste Anstellung, wer eine solche nicht ergattert hatte, musste sich mit diversen Gelegenheitsenga-
gements durchs Leben kämpfen.
Tanzmusiker waren in dieser Zeit gefragt, wenngleich nicht hoch angesehen. Lanner dĂĽrfte frĂĽh in diese
Szene hineingewachsen sein. Der Anteil des autodidaktisch Erlernten, ergänzt durch mehr oder weni-
ger methodische Unterweisung oder auch nur zufällig aufgeschnappte Brocken lässt sich weder für sein
Instrumentalspiel noch fĂĽr seine Kompositionen festlegen. Norbert Linke51 nannte Lanner und StrauĂź
„Naturalisten“, weil sie nicht über eine quasi akademische Ausbildung verfügten und sich ihr Können
aus Naturtalent und Eigenerarbeitetem zusammensetzte. Ob Lanner stundenlang ĂĽben musste oder eine
natĂĽrliche Begabung fĂĽr die Violine hatte, wissen wir nicht.
Wenig wissen wir auch ĂĽber Lanners erste Kompositionsversuche. Die vorhandenen Autographe sagen
uns über Lanners Arbeitsmethode nichts. Dass Lanner eine theoretische Ausbildung gebraucht hätte, um
eine Melodie zu harmonisieren, beruht auf dem falschen Vorurteil, Spieler von einstimmigen Instrumen-
ten vermögen nicht harmonisch zu denken. Gerade die Tanzmusik ist das beste Beispiel für das Gegenteil:
selbstverständlich enthält jede Melodie die ihr eigene Harmonik in sich, allenfalls die Verwendung von
Nebenstufen, die reichere AusschmĂĽckung des Satzes ist einer solideren Ausarbeitung vorbehalten. Doch
scheint es undenkbar, dass ein Geiger, der mehrere Jahre tagtäglich Tanzmusik aller Art zu spielen hatte,
nicht imstande gewesen sein soll, einer Melodie die passenden Akkorde zu unterlegen. Möglicherweise
war Lanner am Beginn seiner Musikerkarriere als zweiter oder dritter Geiger im Ensemble verpflichtet
und musste genau die Begleitakkorde spielen, welche die Melodie stĂĽtzten. Die Formeln, nach denen die
meist doppelgriffigen Akkorde gebildet wurden, waren schnell erlernbar, gleiches gilt fĂĽr den Bass.
Das wenige Quellenmaterial ist schlicht zu dĂĽrftig, um daraus eine wissenschaftlich fundierte Theorie
ĂĽber Lanners Lernen und Reifen zu gewinnen. Die Violastimmen von StrauĂź Vater, insbesondere die zu
„Aufforderung zum Tanz“ op. 7, dessen Alternativbassstimme zu den „Dornbacher Ländlern“ op. 9 zeigen
zwar Ansätze von bewusst gestalteten und ideenreichen Varianten, aber ob sie systematisch erarbeitet oder
eher zufällig zustande gekommen sind, ob das restliche Material (es handelt sich immer um Stimmenab-
schriften von zweiter und dritter Hand) den definitiven Willen Lanners oder eine gerade aktuelle Version
darstellte, all das werden wir nie wissen.
Unsicherheiten, Ungeschicklichkeiten sind jedem jungen Komponisten zuzugestehen. Lanners FrĂĽhwer-
ke stellen stereotype neben ideenreiche Passagen, wenig Durchdachtes neben ĂĽberlegt Ausgearbeitetes,
Routine neben Originalität. In unmittelbarer Nachbarschaft zum 2. Quodlibet op. 22, das reine Konfek-
tion in zuweilen primitivster Machart darbietet, steht der „Blumen-Fest-Ländler“ op. 23, der eine reiche
Auswahl an unterschiedlichster Melodiebehandlung, gepaart mit originellen rhythmischen Variationen,
pikanten Verzierungen und zum Teil schon raffinierten Instrumentaleffekten aufweist.
Johann StrauĂź Vater hatte Musiker um sich, die ihm beratend zur Seite standen und in der Ausarbeitung
seiner Werke behilflich waren. Lanner konnte ebenfalls auf Unterstützung zählen, wenngleich wir darü-
ber weniger wissen. Wie hoch der Anteil etwa eines Johann Faistenbergers oder Franz Flatschers war, ob
sich deren Arbeit auf das Erstellen der Stimmenabschriften beschränkte oder ob sie aktiv in den Kompo-
sitionsprozess eingriffen, lässt sich mit letzter Sicherheit nicht entscheiden.
Zu den frühesten Werken Lanners – nicht ediert, aber z. Tl. in Originalmanuskripten erhalten – zählen
kammermusikalische Kleinwerke (etwa seine diversen Contredances und Francaisen), aber auch Bearbei-
51 Norbert Linke, Es musste einem was einfallen, Tutzing, 1992.
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Title
- Joseph Lanner
- Subtitle
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Author
- Wolfgang Dörner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Size
- 21.0 x 29.5 cm
- Pages
- 752
- Keywords
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang