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Werke
mehr realisieren lassen. Wie schnell somit diese effektvollen Galoppe tatsächlich gespielt wurden, lässt
sich nicht mehr rekonstruieren, doch haben sie ihre Wirkung nie verfehlt.
Die Galoppe waren die Hauptursache, dass gegen das heftige Tanzen in Wien so gerne und durchaus
ironisch protestiert wurde. Unter der Überschrift „Ueber die Galloppe“ wird augenzwinkernd aber ener-
gisch gegen diesen Tanz polemisiert: „Wiens Aerzte würden sich um die Gesundheit vieler junger Männer,
Mädchen und Frauen ein wesentliches Verdienst bereiten, wenn sie auf einen Lieblingstanz der jungen
Welt, die rasende Galoppe, einen ernstlichen Verboth legten! Wenn seine rasche Musik vom Orchester
herabrauscht, da dünkt mich’s, das Horn Oberons zu hören; so hüpft und tobt alles durch einander, bis
man athem- und besinnungslos auf den nächsten Stuhl hintaumelt. Die Bewegung dabey ist immerwäh-
rend … und das Blut wird dabey so in Wallung gebracht, dass ein Zerspringen der Aorta leicht möglich
wird. … Jedes Mädchen möchte ich bitten mit aufgehobenen Händen, nur diesen Tanz zu meiden …
Auch mir raubte unmäßiges Tanzen eine theure Freundinn in der Blüthe ihrer Jahre, und ich schaud’re,
seh’ ich ein Mädchen sich so herumtreiben, dass das Gesicht glüht, wie sie ihre blühende Gesundheit
lachend zernichtet.“164
Cotillon
Während sich Gesellschaftstänze wie Walzer oder Polka bis in unsere Zeit erhalten haben und selbst eine
Mazurka oder eine Quadrille uns zumindest dem Namen nach bekannt sind, ist der Cotillon nahezu
vollständig verschwunden. Sein Name verweist auf den französischen Ursprung (Cotillon = franz. Unter-
rock), wo er bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts getanzt wurde. Von dort kam er im Lauf der
Jahrzehnte nach Deutschland, Ă–sterreich, aber auch England. Er ist eine Abart des Contredanse, ein man-
nigfach zusammengesetzter Tanz, der aus verschiedenen Touren oder Figuren besteht.165 Tanzmeister wett-
eiferten im Erfinden immer neuer Figuren, die im Walzer-, Galopp- oder Polkaschritt ausgefĂĽhrt wurden.
Lannersche Cotillons bestehen in der Regel aus fĂĽnf Touren mit Trios und einer Schlusstour. Aus Co-
tillons wurden die unterschiedlichsten Gesellschaftsspiele entwickelt, die Titel weisen gerne darauf hin.
Lanners erster Cotillon datiert von 1827 (op. 10), aus 1831 stammt sein op. 51 „Devisen-Redout-Cotillon“,
bei dem die einzelnen Touren nach Blumen benannt sind: die vier Einzeltouren heißen „Feuernelke“,
„Nachtveilchen“, „Rose“, „Vergissmeinnicht“, das Finale fasst die Blumen zusammen zu einem „Band des
Sträußchens“. Op. 72 aus dem November 1832 zeigt uns eine andere Facette dieses Tanzes: Lanner schrieb
Cotillons über „Motive aus der Oper Montecchi ed i Capuleti“, ähnlich wie bei manchen Quadrillen wer-
den also keine eigenen Themen verwendet, sondern beliebte Melodien verarbeitet. Op. 86 trägt den Anlass
des Ballfestes im Titel: der „Rosen-Cotillon“ wurde für den Zweiten Rosenmädchen-Ball am 16. 1. 1834 im
Hotel „Römischer Kaiser“ geschrieben. Formal folgt auf jeden einzelnen Cotillon ein Trio, nach dem der
Cotillon wiederholt wird. Zwischen den beiden Cotillons ist ein Galopp (ebenfalls mit Trio) eingeschoben,
ein Finale schlieĂźt die Komposition ab. Nach diesem Werk schrieb Lanner keine Cotillons mehr.
Wie umstritten der Cotillon war, zeigt ein anonymer Brief in Bäuerles „Allgemeine Theaterzeitung“ vom
30. Oktober 1830166. Unter der Überschrift „Gegen den Cotillon“ wird auf durchaus humorvolle Weise
gegen den beliebten Tanz gewettert und seine Abschaffung gefordert, weil er „1) ein heidnischer, 2) ein
strafbarer, und 3) ein gottloser Tanz sey.“ FĂĽr 1.) bringt er Beispiele aus der Antike („Â
… andere behaupten,
die Archonauten hätten bereits den Cotillon … getanzt, und zwar aus Freude, den feurigen Drachen um
das goldenen Vlies geprellt zu haben, .. er ist also … ein heidnischer Tanz.“), für 2.) folgen umfangreiche
Berechnungen über die Schrittzahl und die sich daraus ergebenden Anstrengungen für die Lunge („Nach
dem [sic!] neuesten Bestimmungen der Gesundheits=Behörde ist aber bey einem Menschen von der
stärksten Konstitution, z. B. bey einem Rezensenten oder theatralischen Herausrufer, die menschliche
164 Der Wanderer, 31. 5. 1826.
165 Schneider a.a.O. S. 104.
166 Theaterzeitung 30. 10. 1830.
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Title
- Joseph Lanner
- Subtitle
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Author
- Wolfgang Dörner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Size
- 21.0 x 29.5 cm
- Pages
- 752
- Keywords
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang