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Joseph Lanner – Leben und Werk
Das Spielen mit der Funktion der Introduktion konnte lustvoll betrieben werden. Johann StrauĂź Sohn
lässt seinen „Frühlingsstimmen-Walzer“ unisono, im forte und sofort im Walzertempo anheben, dennoch
ist es unüberhörbar eine Einleitung (samt der vor allem in Liedern gerne verwendeten „Vorreiter“ – Takte,
in denen die Begleitung vorgestellt wird, ehe das Thema anhebt). Ist es die Idee der permanenten Bewe-
gung, des Tanzes ohne Anfang und Ende (so wie „Gloria“ und „Sanctus“ im katholischen Ritus ohne Ein-
leitung gesungen werden, das Volk fällt ein in den im Himmel unaufhörlichen, auf Erden imaginierten
Gesang der Engel und Seligen …), die hier Musik geworden ist?
Eingang
Dienen Introduktionen der Einführung in das Werkganze, so bilden Eingänge eine kurze Überleitung
von einem Walzerteil zum nächsten. Eingänge gliedern von einander abzugrenzende Abschnitte, sie kön-
nen aus einer knappen Kadenz bestehen, wenn Walzer unterschiedlicher Tonalität aufeinander folgen und
der Komponist ein verbindendes harmonisches Element einsetzen möchte. Kontrastierende Charaktere
können aufeinander prallen oder durch eine vermittelnde Einleitung vorbereitet werden, die Einleitung
stimmt ein, wo Ăśberraschung nicht gewĂĽnscht ist.
Ă„hnlich wie bei Introduktionen lassen Einleitungen sich kĂĽnstlerisch ausgestalten, ambitionierter noch
als jene, da eine Einleitung knapp gehalten werden muss, selten sich über mehr als vier – allenfalls acht
– Takte erstreckt. Der Phantasie des Komponisten entspricht das Einfühlungsmoment des Interpreten:
der verzögerte Walzerauftakt, der quasi verdoppelte Beginn hat sich als Tradition etabliert, ohne dass die
Legitimation dieser Freiheiten quellenkritisch erfassbar wäre.
In Ansätzen finden wir Eingänge bereits in op. 1 (vor Nr. 5 zwei „Überraschungsakkorde“). In op. 6
schreibt Lanner vor Nr. 5 einen kurzen (4 Takte) Eingang. In den Folgejahren finden wir alle möglichen
Gestaltungen.
Der schon mehrfach zitierte „Pesther Walzer“ op. 93 sei erneut als Beispiel für Lanners feines Gespür
fĂĽr Ăśberraschungen zitiert: auf den konventionell gehaltenen Abschluss von Walzer Nr. 2 folgt ein ĂĽber
einem übermäßigen Septakkord gehaltenes viertaktiges Thema, das bereits den Eintritt von Walzer Nr. 3
bedeuten könnte und sich erst aus der Nachschau als Eingang entpuppt. Die Wiederholung leitet zu
einem Pianomotiv über, welches verkürzt (dreitaktig, der letzte Takt der Phrase verschränkt sich mit dem
ersten Takt des Walzers) und zusätzlich verschleiert durch einen Bindebogen den Eintritt der nachfolgen-
den Nummer verwischt. Gleitende Übergänge anstelle einer bloßen Abfolge von Nummern machen aus
einer Walzerkette eine Gesamtkomposition.
Diese Verschränkungen zeigen sich – mit Abstrichen – auch im Walzer „Die Werber“ op. 103. Walzer
Nr. 3 hebt mit einem Eingang an, der zunächst viertaktig erscheint, erst aus der Wiederholung des Wal-
zerteils erkennt man, dass der letzte Takt des Eingangs in Wirklichkeit der erste des Walzers war: das Spiel
mit auftaktigen unbegleiteten Themenbeginnen reizte Lanner sein Leben lang.
Coda – Finale
Schwanz (wörtlich übersetzt), Schweif, Schleppe, Ende oder Zopf sind die deutschen Äquivalente zum
italienischen Wort „Coda“. Was immer Coda ist, es hängt hintendran, ist nicht wesentlich, hat nicht
Anteil am Ganzen und ist doch unverzichtbar. Kein Komet könnte übers Firmament gleiten, ohne seine
verlöschende Pracht hinter sich herzuziehen.
Musikalische Formen leben von ihrer Abgrenzung, das viertaktige Urthema nicht weniger als die unend-
liche Melodie. Wo Komponisten bis zum 17. Jahrhundert mit einer einfachen Kadenz ihr Auslangen fan-
den, erforderte die stetige Erweiterung instrumentalen Schaffens eindeutigeres Enden. Wiederholungen
der letzten Periode bildeten eine erste Stufe, die traditionellen Wiederholungen innerhalb der Sonaten-
form nicht nur der Exposition, sondern auch der DurchfĂĽhrung und anschlieĂźenden Reprise zwangen
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Title
- Joseph Lanner
- Subtitle
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Author
- Wolfgang Dörner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Size
- 21.0 x 29.5 cm
- Pages
- 752
- Keywords
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang