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Romantik – Biedermeier
Bei seinem letzten Gang trifft der Wanderer auf den Leiermann. Das routinierte Drehen der Leier ent-
spricht der Walzerdrehung wie dem Wanderschritt: durch nichts abzulenken, weder von einem prächtig
dekorierten Ballsaal noch durch eine karge Winterlandschaft. „Soll ich mit dir gehn? Willst zu meinen
Liedern deine Leier drehn?“ fragt der einsame Reisende auf seinem letzten Gang. Lieder ohne Worte sind
es, die der Leiermann seinem kĂĽmmerlichen Kasten entlockt.
FlĂĽchtig und unstet sind romantische Begegnungen: fĂĽr einen einzigen Tanz finden Menschen zueinander,
die nach dem letzten Akkord wortlos von einander scheiden. Eine scheue Berührung da, ein ängstlicher
Blick dort: Beziehungen werden eingegangen, halten oft nicht einmal die Karnevalssaison, ehe das Mäd-
chen, der junge Mann erneut sich wieder auf die Suche nach dem GlĂĽck, diesmal dem richtigen begibt.
Fremdheit, Einsamkeit prägt den romantischen Menschen. In der Gesellschaft findet er sich nicht zu-
recht, fühlt sich unverstanden, ausgestoßen. Im größten Trubel bleibt er alleine. Tanzende Paare können
sich verlieren inmitten der rauschenden Ballgesellschaft, drehen selbstvergessen im LiebesglĂĽck fĂĽr sich
ihre Runden. Aber auch die einzelne Tänzerin, der einzelne Tänzer können einsam und verloren sich füh-
len: das junge Mädchen im Arm eines älteren Tanzpartners, einem trostlosen Schicksal an der Seite eines
verständnislosen und gefühlskalten Ehemanns ausgeliefert, der ältere Kavalier, der bei der Damenwahl
regelmäßig übersehen wird, der resigniert sein Alter, seine schwindende Attraktivität auf das schönere
Geschlecht verspĂĽren muss.
Die Natur als poetische Gegenwelt wurde mit zum stärksten Ausdrucksmittel der Romantik. Novalis
blaue Blume, Schuberts Lindenbaum wurden zu Synonymen fĂĽr SehnsĂĽchte, fĂĽr Orte des gewonnenen
und wieder verlorenen Glücks. Unter Bäumen saßen Lanners Zuhörer, im Paradiesgarten, in Haimbach,
auf dem Brigittakirtag. Schuberts Gesellen verhieĂźen die Zweige trĂĽgerische Ruhe, Lanners Publikum
tröstete sich mit irdischen, aber nicht minder im Wind „verflogenen“ und verfremdeten Klängen.
Der Kreislauf der Natur wirkte auf den Ballkalender: mit Blumenfesten wurde die Sommersaison eröff-
net, mit „Floras Abschied“ Lebewohl gesagt den Soiréen in lauer Abendstimmung, den Kirtagen, den
Wirtshausgärten voll blühender und duftender Blüten. Blumendekorationen finden sich im Winter in
den Tanzsälen, Kunstblumen täuschen dort noch „Natur“ vor, wo die Eisblumen an den Fensterscheiben
die reale Natur erahnen lassen.
Schuberts Wanderer ergibt sich der feindlichen Natur, wird am Ende mit ihr verschmelzen, mit ihr eins
werden. Lanners Ballbesucherin schaudert und flieht sie: im dünnen Ballkleidchen, das die Kälte einen
bis in die Knochen spüren lässt, eilt sie (eine Kutsche kann sie sich nicht leisten) zur Redoute, der eisige
Wind faucht bis ins Vestibül hinein und hebt den Rocksaum (zur Freude der männlichen Besucher). Dem
Winter trotzt sie auf ihre Weise: nach einer ausladenden Walzertour, erhitzt, mit rotglĂĽhenden Wangen,
lutscht sie an ihrem „Gefrorenen“, dreht dem Winter die lange Nase, nicht ahnend, dass der Tod heute
Nacht noch sie holen wird aus ihrer ungeheizten Dachkammer.
Natur ist grausam, ist unromantisch: Die Zeitungen sind voll von Ankündigungen von Wohltätigkeits-
bällen zugunsten von Opfern von Überschwemmungen, von Eisstoß, von Hagelunwettern. Man spendet
für den guten Zweck und dreht sich – wohlig schaudernd – munter weiter auf dem glatten Parkett.
Die Romantik entdeckte die Nacht: nächtliches Dunkel begleitet Don Giovanni bei seinem Überfall
auf Donna Anna, hilft ihm bei seinem Kleidertausch mit Leporello. Die Nacht wird Vertraute von Tris-
tan und Isolde (Höhepunkt und Schwanengesang aller romantischen Liebespaare). Tristan schaudert es
vor dem Anbruch des Tages, Brangänes warnende Worte möchte er nicht hören, Markes jähes Eindrin-
gen nicht sehen. Der ĂĽberwiegende Teil der Lannerschen Veranstaltungen fand in der Nacht statt. Ball-
säle öffneten um Acht oder noch später ihre Pforten, Soiréen im Sommer wurden unterm funkelnden
Sternenhimmel abgehalten. Winterliche Nachmittagsunterhaltungen sahen die Dämmerung durch die
Fensterscheiben anbrechen, genüsslich schlürfte man Kaffee oder Punsch. Lanners Walzer beschwören
Nachtstimmungen, seien es die „Abendsterne“, denen der Rezensent der Theaterzeitung in einer „halb-
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Title
- Joseph Lanner
- Subtitle
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Author
- Wolfgang Dörner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Size
- 21.0 x 29.5 cm
- Pages
- 752
- Keywords
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang