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Joseph Lanner – Leben und Werk
genten wurden als Interpreten kaum wahrgenommen, man war zufrieden, wurde das Opus ohne gröbere
Umfälle präsentiert. Mit den Jahren veränderte sich der Blickwinkel der Journalisten im Gleichklang mit
den Ansprüchen der Interpreten an sich selbst: nun wurden „feurige“ oder „begeisternde“ Leistungen ge-
würdigt, wurde das Erfassen der Idee bestätigt oder der Mangel bedauernd konstatiert, trat die technische
Leistung (die zunehmend als selbstverständlich vorausgesetzt wurde) hinter die künstlerische.
Die Ungleichgewichtigkeit in den Rezensionen – Opern und „große“ Konzerte (Orchester, Starsolisten
auf Durchreise) wurden bevorzugt, die Kammermusik fristete eine kümmerliche Randexistenz – geht par-
allel mit der Beliebtheit der Gattungen bei den Wienern. Die Theater wurden gestĂĽrmt, ein Liederabend
fand im vertrauten intimen Freundeskreis statt. So erhielt eine Petitesse höhere Resonanz im Blätterwald
als Schuberts „Winterreise“.
„Theaterzeitung“ und „Wanderer“ schätzten Strauß wie Lanner gleichermaßen, einzelne Rezensenten lie-
Ăźen ihre Vorlieben spĂĽren, ohne in ihren Urteilen sich zu groben Ungerechtigkeiten hinreiĂźen zu lassen.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte der radikale Bruch: die Ăśbermacht von Johann StrauĂź Sohn
und Kollegen fĂĽhrte dazu, dass Lanners Werk nach dessen Tod so gut wie keine Rezeption erfuhr. Aus
dem Vater des Wiener Walzers wurde ein Vorläufer, dem Eigenständigkeit fehlte, der als notwendiger Vor-
bereiter hingenommen, dessen Eigenheiten aber kaum gewĂĽrdigt wurden. Die Bearbeitungen trugen das
ihre dazu bei, das Bild zu verfälschen: entweder blähte man den Orchesterapparat auf, bis er auf Wagner-
sche Größe angeschwollen das filigrane Linienspiel Lannerscher Instrumentationskunst erdrückte, oder
man reduzierte sein Ensemble auf Kammermusikbesetzung, die aus Lanner eine Art instrumentierenden
Schubert machte. Während Strauß der Ältere zumindest bedingt durch seine prominente Verwandtschaft
auch quellenkritischen Untersuchungen unterzogen wurde, beließ man es bei Lanner auf Wiederkäuen
von Vorurteilen und verharmlosenden Allgemeinplätzen.
Die Unsicherheiten in der Beurteilung der Stile und Genres taten ein Übriges: Ländler wurden nicht als
Kunstwerke empfunden, Walzer pauschal als Gattung angesehen, ohne deren Entwicklungen zu erfor-
schen. Weder ist Lanners Frühwerk mit seinem Spätwerk nach den gleichen Kriterien zu beurteilen, noch
ein Walzer der Silbernen Ă„ra mit einem des jungen StrauĂź. Ein Lannerscher Galopp hat wenig mit einer
Johann StrauĂźschen Schnellpolka zu tun, eine robuste Mazurka nichts mit einer lyrischen Polka Mazur
von Josef StrauĂź. Es bleibt zu hoffen, dass die neu erscheinenden quellenkritischen Werkausgaben Anre-
gung und Material fĂĽr eine umfassende Feldforschung liefern.
Der Disput um die Ernsthaftigkeit von Kritiken ist uralt. Der zu besprechende Gegenstand erhebt oder
erniedrigt den Rang der Journalisten, die untereinander sich um Ehre und Ansehen streiten: „Nach sol-
chen brillanten Decorationsfesten [gemeint ist „Erinnerung an Guttenstein – großes Festarrangement
beim Sperl“, das am 23. 2. 1837 zum Gedenken an den durch Freitod aus dem Leben geschiedenen Ferdi-
nand Raimund abgehalten wurde. Anm. d. V.], wie dieses heutige, wird doch wenigstens jenen, die ihre
Meinung über derlei Salonserscheinungen in den öffentlichen Blättern niederlegen, der ehrende Beiname:
Wirtshauskritiker, nicht mehr beigelegt werden dĂĽrfen, denn mit der Besprechung solcher theatralischer
Salonarrangements treten sie schon in die ehrenwerte Classe der Theaterkritiker über, übrigens möge man
immer fĂĽr wahr annehmen, daĂź es leichter und dankbarer ist Lessing, Herder und Tieck zur kritischen
BrĂĽhe ĂĽber ein neues TheaterstĂĽck zusammenzusieden, und ellenlange Bandwurm-Recensionen ĂĽber
Musik zu fabriciren, wenn man auch gar nichts davon versteht, als eine Notiz ĂĽber solche Ephemeriden
geselligen Vergnügens hinzuwerfen.“298
In einer zunehmend technisierten und entromantisierten Welt bildet Tanzmusik einen Fremdkörper, dem
mit dem Vokabular traditionellen musikwissenschaftlichen Fachsimpelns nicht beizukommen ist. Nicht
nur historische AuffĂĽhrungspraxis, sondern auch RĂĽckbesinnung auf historische Rhetorik ist gefordert,
wenn Lanner umfassend gewĂĽrdigt werden soll.
298 Theaterzeitung 25. 2. 1837.
Joseph Lanner
Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Title
- Joseph Lanner
- Subtitle
- Chronologisch-thematisches Werkverzeichnis
- Author
- Wolfgang Dörner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78793-8
- Size
- 21.0 x 29.5 cm
- Pages
- 752
- Keywords
- Joseph, Lanner, list of works, waltz, Vienna, danse, Joseph, Lanner, Werkverzeichnis, Walzer, Wien, Tänze
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- Danksagung 9
- Verzeichnis der AbkĂĽrzungen 10
- Biographische Notizen 13
- Reisen 16
- Beginn – Werden – Sein 21
- Vorläufer – Mitläufer – Nachfolger 23
- Tanz 28
- Bälle – Tanzstätten – Aufführungsorte 32
- Solisten – Ensemble – Kapelle – Orchester 39
- Akademie – Assemblée – Conversation – Piquenique – Réunion 42
- Publikum 44
- Werke 46
- Instrumentation 69
- Formen 79
- Notenmaterialien 86
- Widmungsträger 95
- Titel 97
- Verlage 100
- Quellen – Bibliotheken – Sammlungen 101
- Funktionalität – Autonomie – Interpretation 102
- Virtuosentum 106
- Romantik – Biedermeier 108
- Strahlender Stern – leuchtender Stern 112
- Rezension – Rezeption 113
- FlĂĽchtige Lust 115
- Literatur 117
- I. Gedruckte und mit Opuszahlen versehene Werke
- II. Nicht mit Opuszahlen versehene Werke
- III. Sammelwerke und diverse Werke 717
- IV. Anhang