Page - 4 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Frank Stern · Barbara
EichingerSteven
Bell
Kurz, wenn man die Beteiligung von Juden am modernen kulturellen und intellek-
tuellen Leben Wiens und Österreichs der Zwischenkriegszeit auflistet, wird klar, dass
der österreichische Beitrag zur modernen Weltkultur ohne diesen jüdischen Beitrag
undenkbar ist.
Die Ursprünge dieser phänomenalen jüdischen Beteiligung (als Juden nur etwa
drei Prozent der Bevölkerung der Republik Österreich ausmachten) gehen bis ins
späte achtzehnte Jahrhundert zurück, als die Juden in Mittel- bzw. Zentraleuropa
sich zu „modernisieren“ begannen. Impulse dazu kamen von außen und von innen.
Der Ausgangspunkt war die traditionelle Lebenswelt und Kultur der aschkenasischen
Juden in den deutschsprachigen und zentraleuropäischen Ländern. Zu dieser Lebens-
welt gehörten besondere Sitten, die sie von der umliegenden christlichen, vormo-
dernen Welt unterschieden. Unter diesen komplexen und vielfältigen Unterschieden
waren zwei Aspekte besonders wichtig :
Erstens erfuhr das Lernen, das religiöse Lernen in der jüdischen Lebenswelt eine
viel größere Betonung, und zweitens wurde der ethischen Seite des Lebens mehr Be-
deutung zugemessen als der ästhetischen. Die Idealfigur dieser Lebenswelt war der
talmid hakham, der weise Lehrende, der durch sein Lernen, die Interpretation von
sakralen Texten, der Thora und des Talmuds, die Wege Gottes zu verstehen trachtete.
In dieser Idealfigur waren Lernen und Ethik eins.
Aber diese Lebenswelt entsprach nicht der „modernisierenden“ Welt des neuen
zentralisierten Beamtenstaates in der Ära des aufgeklärten Absolutismus. Weder aus
der Sicht der habsburgischen Behörden noch aus der Sicht der Anhänger der jüdi-
schen Aufklärung, der Haskalah. So wurde versucht, die Juden Zentraleuropas in
die umliegende Gesellschaft zu integrieren. Im Westen hat man diese Integration
durch die sofortige Anerkennung der Gleichheit der Juden vorgenommen, in Zen-
traleuropa, den deutschen Ländern und der Habsburgermonarchie hingegen wurde
ihnen ein Quidproquo vorgeschlagen. Das hieß, die Juden sollten sich assimilieren
und moralisch verbessern und dafür würden sie von bedrückenden Sondergesetzen
und Verboten befreit. Dieser Prozess begann 1780 und resultierte erst etwa 1867 in
der endgültigen, vollen Emanzipation (Gleichsetzung) der Juden Zentraleuropas. In
diesem fast jahrhundertlangen Zeitraum änderten Juden zwar Identität und Sitten,
gleichzeitig entwickelten sie aber ihre eigene Ideologie und ihre eigenen Traditionen.
Das Resultat war nicht die radikale Integration, die die Behörden und auch manch
jüdischer Führer vielleicht gewünscht hatten, sondern eine neue jüdische Identität,
zwar ganz akkulturiert, aber doch eine besondere Art von deutscher Kultur, eine jü-
Zum Folgenden siehe Beller, Wien und die Juden, S. 97–205 ; David Sorkin, The Transformation of Ger-
man Jewry, 1780–1840, Oxford 1987.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519