Page - 8 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Frank Stern · Barbara
EichingerSteven
Bell
In der Operette hat Frühling eine Tochter, Trendl bzw. Therese, die eigentlich seine
Stieftochter ist, Kind einer verstorbenen deutschen, christlichen Adeligen, die er innig
liebt. Frühling verteidigt die Interessen seiner Stieftochter gegen ihren bösen Onkel,
Baron Hartenstein, einen Mann mit verfeinertem ästhetischem Geschmack und her-
vorragenden Manieren, aber ohne irgendwelche ethischen Skrupel, indem er, Früh-
ling, vortäuscht, ein ganz stereotypisch verlogener, nur geldgieriger „Jud“ zu sein.
Frühling „gesteht“, dass Trendl nicht die Tochter des Adeligen, sondern seine
eigene sei. Das adelige Kind sei als Baby gestorben, und er habe seine Tochter,
Trendl, in die Identität des adeligen Kindes schlüpfen lassen, um an das Geld der
anderen Mitglieder der adeligen Familie zu kommen. Therese hat ihre Erbschaft
schon direkt von einem verstorbenen Onkel bekommen – dessen Geld ist also ihr
Eigentum. Da nun Therese angeblich eine Jüdin ist, will Baron Hartenstein über-
haupt nichts mit ihr zu tun haben, denn dann wäre sie ja auch nicht seine Nichte.
Durch diesen Trick, ein Paradebeispiel der jüdischen Schlauheit bzw. Klugheit,
ermöglicht Frühling, dass Trendl ihrer Erbschaft von ihrem Onkel nicht beraubt
wird. Er nimmt die daraus resultierende Beschämung und die Bestätigung vom
antisemitischen Stereotyp in Kauf, um die Interessen seiner geliebten Stieftochter
zu verwirklichen. Im Handlungsverlauf gibt es ein Lied, das mit verheerend anti-
semitischen Verleumdungen über die „jüdische Familienliebe“ spottet. Wenn man
nur diesen Gesangtext zu lesen hätte, wäre man überzeugt, dass die Operette ein
antisemitisches Werk sein muss. Als Trendl aber nach ein paar Jahren, im dritten
Akt, mündig geworden ist, widerruft Frühling und beweist, dass Trendl eigentlich
die Tochter des Adeligen ist. Therese ist jetzt kein Mündel mehr und kann frei
entscheiden, was sie will. So kann sie ihre Erbschaft noch genießen und ihren Ge-
liebten, Heini, Kapitän des Rheindampfschiffes „Loreley“, heiraten. Im Finale sind
Frühling und Trendl auf dem Schiff :
„Frühling : ,Das haben wir fein gemacht ! Wir fahren doch auf der Loreley, von der Heine
sagt : ‚halb zog sie ihn – halb sank er hin‘ !
Trendl : ,Erstens ist das nicht die Loreley und zweitens ist das von Goethe !‘
Frühling : ,Das ist auch von Goethe ? Großartig ! Ich hab’ geglaubt, von dem ist nur Nathan
der Weise !‘“
Hier hat das Publikum vielleicht gelacht, in der Anerkennung von Frühling am Rhein
als eine Operetten-Version von Lessings Nathan der Weise.
Ebd., S. 91.
Ebd., S. 104.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519