Page - 13 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Einleitung 1
Was nicht im Baedeker steht 1
Zweitens wurde die jüdische Kritik (die wirklich existierte) an althergebrachten
(aber oft falschen) „Wahrheiten“ der zentraleuropäischen halbsäkularisierten-christ-
lichen Gesellschaft zu oft als eine Bedrohung der Gesellschaft und der Kultur an
sich angesehen. Ein „echter“ Konservativer, der an eine harmonische, „reine“, religiös
und hierarchisch strukturierte Gesellschaft glaubte, empfand die Ideen von vielen
radikalen und innovativen Denkern, die meistens jüdisch waren, als „zersetzend“.
(Rückblickend würden wir eine Zersetzung solcher repressiven Denkarten willkom-
men heißen.)
Drittens, selbst wenn Juden nichts gegen die Konventionen der Gesellschaft ge-
stellt hätten, so waren sie aus Sicht der „kompakten Majorität“ schon aufgrund ihres
„Andersseins“ an sich eine Herausforderung. Die Assimilation hatte nicht das Ver-
schwinden der jüdischen Identität zur Folge, wie man ein Jahrhundert davor ange-
nommen hatte. Es gab sehr wohl Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden in der
österreichischen Gesellschaft, die durch den Zionismus wieder verstärkt hervortraten.
Er war auch ein Argument für jene, die den „zersetzenden“ Juden die Schuld an ge-
sellschaftlichen Missständen gaben. „Der Jude“ war verantwortlich für das Scheitern
der „Vision einer harmonischen Gesellschaft“. Hugo Bettauer hat diesen Wunsch in
seinem Zukunftsroman Die Stadt ohne Juden satirisch zermalmt. Er selbst wurde bald
danach ermordet, aber die Schimäre einer reinen, harmonischen Zukunft, wenn nur
die „bodenständigen“ Österreicher „unter sich“ sein konnten, blieb 9 – und erfuhr ihre
traurige Erweiterung durch den „Anschluss“ an den „größeren deutschen Bruder“.
Die Erste Republik Österreich hat ihre Identitätsproblematik nie gelöst. Sie blieb
zwischen den Zeilen, was sie war, „Deutschösterreich“. Auch der Ständestaat war
keine wirkliche Lösung für den Mangel an Selbstbewusstsein in der radikal geän-
derten Welt der Zwischenkriegszeit. Daher kann die Euphorie vom März 1938 als
eine Art Entspannung verstanden werden, als die Deutschösterreicher, nach langem
Wandern, endlich ihr Heim im (dritten) Reich fanden. Es war kein Zufall, dass
diese Entspannung von Pogromen gegen Juden begleitet war, eben weil Juden als
die Hauptvertreter der problematischen, mannigfaltigen und „unreinen“ Identität
des Zwischenkriegszeit-Österreich gesehen wurden. Im Hypernationalstaat Hitler-
Deutschlands waren sie der nationalen Einheit gegenüber eine Herausforderung, die
es abzuschaffen galt. Es lag und liegt eben in der Logik des Nationalstaates, dass man
entweder ein Mitglied einer Nation ist oder nicht. Konsequent gesehen kann man in
dieser Logik nicht sowohl Deutscher als auch Franzose sein. So durfte man damals
nicht sowohl Deutscher/Österreicher als auch Jude sein. Die Logik von „entweder/
oder“, vom Gesetz der ausgeschlossenen Mitte, verbat das.
Hugo Bettauer, Die Stadt ohne Juden : Ein Roman von Übermorgen, Berlin 1980.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519