Page - 21 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Einleitung
1Jüdische
Lebenserinnerungen 1
lichen säkularen Familie stammt, musste wochenlang das Lesen des Thoraabschnitts
auf Hebräisch üben und lernte Tefillin anzulegen. Sonst hatte die Bar-Mizwah-Feier
nur wenig jüdische Bedeutung : „My father wrote two pages in my diary with advice
for my future. He did not make any reference to Jewish writings, but he quoted a
Roman author and the German poet Goethe.“ Thomas Chaimowicz (geb. 1924),
Sohn einer großbürgerlichen assimilierten Familie, bezeichnet seine Bar-Mizwah als
Höhepunkt seines Lebens in Wien und als Kontrapunkt zu dem, was wenig später
folgte : der „Anschluss“ und die Vertreibung. Während Chaimowicz die Anwesenheit
des Oberrabbiners bei seiner Bar-Mizwah hervorhebt, berichtet er im Zusammen-
hang mit seiner jüdischen Hochzeit in Bogotá im Jahr 1950 von den zahlreichen
nichtjüdischen Gästen, die angehalten wurden, Kopfbedeckungen zu tragen. Im
fernen Kolumbien konnte Chaimowicz sich neuerlich als Jude gesellschaftlich integ-
riert und akzeptiert fühlen.
Nach dem „Anschluss“ konnten Bar-Mizwah-Feiern nur mehr im kleinen Kreis
abgehalten werden. Dennoch war ihre Bedeutung als selbstbewusstes Bekenntnis zum
Judentum und gleichzeitig als Stück gerettete jüdische Normalität erheblich. Philipp
Fehl (geb. 1920), der keineswegs religiös war, nahm auf der Flucht in die Tschechoslo-
wakei die Tefillin mit, die er zur Bar-Mizwah erhalten hatte. Dass der österreichische
Grenzpolizist ihn höflich passieren ließ, obwohl er sie im Gepäck entdeckt hatte,
prägte sich tief in Fehls Erinnerung ein. Die Bar-Mizwah, bei der sie in die jüdische
Gemeinschaft aufgenommen wurden, gab der jüdischen Identität junger assimilierter
Juden konkreten Inhalt. Dass sich aus Anlass der Bar-Mizwah zahlreiche Verwandte
in der Synagoge versammelten, bekräftigte die jüdische Familienidentität.
In assimilierten Familien schlugen sich die Reste religiöser Praxis in Familienfes-
ten nieder. Diese Familientreffen zu jüdischen Feiertagen, vor allem der Sederabend,
werden in Autobiografien häufig erinnert. Allerdings reflektieren diese Schilderungen
bereits die zunehmende Säkularisierung der Familien. Denn in der Regel halten be-
reits die Eltern der VerfasserInnen jüdische Bräuche oder die rituellen Speisegesetze
nur mehr aus Respekt vor den Großeltern und nur in deren Anwesenheit, wie Käthe
Leichter (geb. 1895) von ihrer großbürgerlichen Familie berichtet : „Mein Großvater,
der meine Großmutter überlebte, verbrachte den Sommer mit uns in Baden, und
obwohl mein Vater für seine Person und unsere Erziehung durchaus liberal und unre-
ligiös war, wurde doch mit äußerster Pietät die strenge Religiosität des Großvaters re-
Hans Reichenfeld, On the Fringe. A sort of Autobiography, Ottawa 2006, S. 22f.
Thomas Chaimowicz, Injoest, Kt. 4, Sig. 15.
Rita Childs, geb. Erika Schächter, 1921, Injoest, Kt. 4 16/1, 16/2.
Philipp Fehl, „Life Beyond the Reach of Hope : Recollections of a Refugee 1938–1939“, Injoest, Kt. 7,
Sig. 25.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519