Page - 28 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Frank Stern · Barbara
EichingerEleonore
Lappin
Universitätsrampe hinunterwerfen, wo bereits die Rettung und die Polizei warten,
die sich jedoch zum Betreten der Universität selbst nicht befugt fühlen, sind Topoi in
Lebenserinnerungen ehemaliger Studierender. Viele Professoren begegneten Studen-
tinnen mit erheblichen Vorurteilen, insbesondere wenn sie in Galizien oder in der
Bukowina geboren worden waren.
Sozialdemokratische Neuorientierung
Harriet Pass Freidenreich schätzt, dass in der Zwischenkriegszeit mehr als die Hälfte
der Wiener Juden sozialdemokratisch wählten. Die Sozialdemokratie sei die „ideo-
logische Erbin“ des Liberalismus gewesen, da sie wie dieser säkular, antiklerikal, nicht
nationalistisch und egalitär gewesen sei. Gleichzeitig habe sie ihn auch „biologisch“
beerbt, da die Kinder der Liberalen Sozialdemokraten geworden seien. 9 Die unter-
suchten Autobiografien bestätigen die wachsende Akzeptanz der Sozialdemokratie
seitens der Juden in der Ersten Republik. Für die 1895 geborene Käthe Leichter be-
deutete der Anschluss an die Arbeiterbewegung im Jahr 1917 noch eine bewusste
Abkehr von jenem jüdischen liberalen Großbürgertum der Jahrhundertwende, das
sie geprägt hatte. Ihre Autobiografie kann als Bildungsroman gelesen werden, der ihre
Entwicklung von einer höheren Tochter zur sozialistischen Aktivistin beschreibt. 0
Die Väter von Stella Klein-Löw (geb. 1904) und Sonia Wachstein (geb. 1907) waren
ebenfalls Liberale, doch vertraten Verwandte und Freunde der Familie auch andere
politische Ansichten. Früh politisiert durch die Diskussionen, die bereits während des
Kriegs im Elternhaus und später auch in der Schule geführt wurden, schlossen sich
Stella und Sonia der Sozialistischen Arbeiterjugend (saJ) und später der Sozialdemo-
kratischen Arbeiterpartei (sDaP) an. Typischer für die Mehrheit der Wiener Jüdinnen
und Juden war wohl Marie Bergel (geb. 1904), die aus einer konservativen bürger-
lichen Familie stammte. Zur Zeit der Monarchie war der Kaiser der Garant für Ruhe
und Sicherheit, der „Krach im Parlament“ interessierte sie wenig. In der Ersten Repu-
blik unterstützte sie die sDaP und blieb ihr Leben lang „philosophisch Sozialistin“,
Siehe z. B.: Lachs, Warum schaust du zurück ?, S. 48, S. 152. Vgl. auch : Michaela Raggam-Blesch, Zwi-
schen Ost und West. Weiblich jüdische Identitätskonstruktionen in autobiographischen Erinnerungen jüdi-
scher Frauen Wiens am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, Innsbruck, Wien, Bozen 2007.
Harriet Pass Freidenreich, Jewish Politics in Vienna, 1918–1928, Bloomington, Indianapolis 1991, S. 2.
Ebd., S. 84f.
0 Leichter, Lebenserinnerungen. Zur Frage der Attraktivität des Marxismus für jüdische Frauen vgl. auch :
Helga Embacher, „Außenseiterinnen : bürgerlich, jüdisch, intellektuell“, in : L’Homme 2 (1991), Wien,
Köln, Weimar 1991, S. 57–76.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519