Page - 40 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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0 Albert Lichtblau
Bühne. Dort stellten sie sich als die heldenhaften Retter der jeweiligen Nation dar, die
den Kampf gegen die Allmacht der paradigmatisch „Anderen“ – „der Juden“ – und
der mit ihnen vermeintlich verbündeten politischen Gegner kämpften.
Der Antisemitismus erhielt nicht ohne Grund den Beinamen „modern“, denn ihm
gelang die Transformation der basalen christlichen Judenfeindschaft in die Ideologien
der ab den 1880er-Jahren entstehenden konservativen und nationalistischen Massen-
parteien. Viele Kleriker hatten bis dahin die Zeichen der antijüdischen Zeit erkannt
und wurden somit zu Sozialisierungsinstrumenten für heranwachsende Generationen
an den Schulen. Die Verschränkung dieser beiden Linien der Judenfeindschaft zeigte
sich 1899 bei einem der zahlreichen Ritualmordvorwürfe, nämlich jenen von Polna,
einem böhmischen Ort, in dem am 29. März 1899 eine neunzehnjährige Aushilfs-
näherin namens Agnežka Hrůzová ermordet wurde. Ein von Almosen lebender Jude,
Leopold Hilsner, geriet unter Tatverdacht. Kurz darauf kam es in Polna zu wüsten
antijüdischen Ausschreitungen, denen später weitere gewalttätige an anderen Orten
folgen sollten.
Das spezifisch Österreichische am Antisemitismus hat nicht nur mit der Politisie-
rung des Katholizismus zu tun, sondern auch mit der dynamischen Entwicklung na-
tionalistischer Strömungen innerhalb der verschiedenen Sprachgruppen, denen sich
auch die jüdische Bevölkerung nicht entziehen konnte, sie musste auf das Programm
der Exklusion der neuen nationalistischen Ideologien reagieren. Nicht von ungefähr
formulierte der ursprünglich „überassimilierte“ jüdische Journalist Theodor Herzl in
einem verzweifelten utopischen Schub 1896 das Buch Der Judenstaat. Es gilt zu Recht
als Schlüsselschrift der zionistischen Richtung, obwohl sich Herzl darin überhaupt
nicht auf die bereits vorhandenen jüdisch-nationalen Strömungen bezog. Zionismus
wie auch die Nationalismen der verschiedenen „Volksstämme“ waren Ausdruck der
in der politischen Luft liegenden Zentrifugalkräfte innerhalb der Habsburgermonar-
chie, die mit Ende des Ersten Weltkrieges und dem Entstehen neuer Nationalstaaten
voll zum Tragen kamen.
Erika Weinzierl, „Katholizismus in Österreich“, in : Karl Heinrich Rengstorf, Siegfried von Kortzfleisch
(Hg.), Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden, Bd. 2, München 1988,
S. 483–531.
Georg R. Schroubek, „Der ,Ritualmord‘ von Polna. Traditioneller und moderner Wahnglaube“, in : Rai-
ner Erb, Michael Schmidt (Hg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A.
Strauss, Berlin 1987, S. 149–171.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519