Page - 64 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Murray G. Hall
ohne Juden“. Kein Klischee, kein Stereotyp wird ausgelassen : „Es gibt eine Zeit, da
Wien keine Juden hat, da von den Hunderttausend, die sich wie ein Heuschrecken-
schwarm auf Wien gestürzt haben, nicht einer zu erblicken ist. Kein Wucherer, der
erst Millionär werden will, und keiner der von erstohlenen Reichtümern aufgeblase-
nen Parvenüs, die, gestern noch ganz Kolomea 0, heute den vornehmen Dandy spie-
len. Keine Damen, die noch wie neulich im Ghetto schmatzen und in der Straßen-
bahn den armen Christen die abgenagten Hühnerbeine zwischen die Füße werfen,
Lorgnon und riesengroße Boutons tragen. Keine Herrschaften im Schieberschal und
Schiebergürtel, keine der Talenwollen, die zwischen fetten Kettenhändlern in Revolu-
tion und Volksverschweinerung machen. Sie alle sind wie weggeblasen aus Wien – die
lieben Gäste. Und dann ist Wien schön. Um uns ist das Volk von Wien. Arbeiter mit
schwieligen Händen, Frauen und Mädchen in bescheidenen Kleidern, alle mit dem
Zuge im Gesicht, den diejenigen tragen, die sich heute schwer und ehrlich durchs
Leben kämpfen. Das Volk mit den reinen Stirnen und den reinen Händen. Dann ist
eine andere Luft in Wien, die Fliederbüsche duften, wir hören die Vögel in den Gär-
ten singen, im hellen Lichte steht drüben über der Stadt der Leopoldsberg […] Das
christliche Volk von Wien ist unter sich und die andern sind verschwunden.
Geh zwischen 6 und 7 Uhr in der Morgenfrühe durch die Mariahilferstraße, fahre
über den Gürtel, oder die Alserstraße oder den Rennweg. Da findest du das arische
Wien : Es ist das Wien, das zur Arbeit zieht. Da ist der Jude nicht darunter […] Eine
Stunde im Tage ist der alten Stadt gegönnt, da sie ganz schön ist, da sie sich selber
gehört, zu ihrem eigenen Ich erwachen darf. Die arme verwunschene Prinzessin aus
dem Märchen, die tagsüber in häßlicher Ungestalt sein muß, bis der tapfere Jüngling
kommt, der sie erlöst. Wann kommt der Erlöser für Wien ? […]“
„Der Autor über sein Buch“
Diesen „Erlöser“ – als Erfinder des „Antijudengesetzes“ – wird Hugo Bettauer in
der Person des Bundeskanzlers Schwertfeger, der sich auf das Volk berufen kann,
bald literarisch einführen. Dass Bettauer die antisemitische Atmosphäre im Wien der
frühen Zwanzigerjahre mit ihren „Arierparagraphen“ und stolz verkündeten „juden-
reinen“ Sommerfrischen, die sich in den Ergüssen etwa der Reichspost, aber beileibe
0 Die Stadt Kolomea (ukrainisch : Kolomyja) gehört heute zur Ukraine. Durch die Teilung Polens im
18. Jahrhundert gehörte sie von 1771 bis 1918 Österreich. Die Erwähnung hier ist wahrscheinlich eine
Anspielung auf jüdische Zuwanderer.
Reichspost, Nr. 114, 25. April 1920, S. 3.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519