Page - 80 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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0 Gabriele Anderl
und ganz besonders die in zionistischen Bünden organisierte Jugend, die vor 1938
zu einer Übersiedlung ins Ungewisse bereit waren. Doch auch die Sehnsucht vieler
Jugendlicher, zum schnellstmöglichen Zeitpunkt nach Palästina auszuwandern, blieb
angesichts der massiven Widerstände der meisten Eltern gegen die Auswanderung
unerfüllt.
Der österreichische „Hechaluz“ und die „Hachschara“
Eine für die zionistische Auswanderung in der Zwischenkriegszeit zentrale Institution
war die österreichische Landesorganisation des „Hechaluz“.
Zionistische Ideologen, vor allem der aus Russland stammende Aaron David Gordon,
hatten schon im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts eine „Normalisierung“ der durch
die historischen Bedingungen der Diaspora entstandenen „Typisch jüdischen“ Berufs-
struktur gefordert. Die Juden sollten ihre dominante Position in „nichtproduktiven“
– also intellektuellen sowie kaufmännischen – Berufen aufgeben und sich manuellen
Tätigkeiten, vor allem der landwirtschaftlichen Arbeit zuwenden und auf dieser Basis ein
neues Leben in Palästina beginnen. Die physische Arbeit, sollte auch im Mittelpunkt der
erzieherischen Vorbereitung auf die „Alija“ stehen. Max Nordau hatte davon geträumt,
den „jüdischen Luftmenschen und reinen Geistesmenschen“ in einen „Muskeljuden und
natürlichen Triebmenschen“ zu verwandeln. Solche programmatischen Äußerungen zio-
nistischer Theoretiker können aus heutiger Sicht auch als eine Internalisierung der anti-
semitischen Karikatur des Juden als unproduktivem Schmarotzer gedeutet werden.
Auf Grundlage der zuvor dargelegten ideologischen Prämissen wurde 1917 in Pa-
lästina der „Hechaluz“ („Pionier“) als Dachorganisation der entsprechend ausgerich-
teten Jugendbünde gegründet. 1921 konstituierte er sich als Weltverband. Er stand
allen Achtzehn- bis Fünfunddreißigjährigen offen und übernahm die Organisierung
der Ausbildungsplätze für die berufliche Umschichtung sowie die Verteilung der Zer-
tifikate für die Jugendorganisationen. Der „Hechaluz“ breitete sich, von Osteuropa
ausgehend, nach dem Ersten Weltkrieg über ganz Europa bis hin nach Nord- und Süd-
amerika aus. Er bildete ein straffes Organisationsgefüge, das von den Mitgliedern voll-
kommene Unterordnung unter die Satzungen der Bewegung, das Erlernen der hebräi-
schen Sprache und die berufliche „Umschichtung“, die sogenannte „Hachschara“, zur
Die Hauptquelle für dieses Unterkapitel ist, sofern nicht anders angegeben : Anderl, Jensen, Zionistische
Auswanderung, S. 190 ff. Siehe ferner : Naomi Lassar (Hg.), Jüdische Jugendbewegungen. Sei stark und
mutig ! Katalog zu einer Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien, Wien 2001 ; Angelika Jen-
sen, Sei stark und mutig ! Chasak we’emaz ! 40 Jahre jüdische Jugend in Österreich am Beispiel der Bewegung
„Haschomer Hazair“. 1903 bis 1943, Wien 1995.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519