Page - 85 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Generationenkonflikte
Gewisse Widerstände kamen – wegen der explizit jüdischnationalen Ausrichtung
– vom sozialdemokratischen Stadtschulrat und Schulreformer Otto Glöckel. Weniger
hartnäckig seien die Vorbehalte seitens des Unterrichtsministeriums gewesen, berich-
tet Binyamin Shimron, der Chronist der Schule. Im Ministerium habe der Einfluss
von Christlichsozialen und Deutschnationalen dominiert, die jegliche gegen die Assi-
milation gerichtete Tätigkeit von Jüdinnen und Juden in Österreich begrüßt hätten.
Auch Pelinka weist darauf hin, dass die Ausrichtung auf die Auswanderung nach
Palästina in der latent oder offen antisemitischen Gesellschaft in Österreich unter-
schiedliche Reaktionen provoziert habe : Sie wurde von manchen Gruppierungen be-
grüßt, oft aber auch bekämpft, manchmal mit ausdrücklichen Sympathieäußerungen
für die arabische Bevölkerung.
Zu jenen, die der Migration von Jüdinnen und Juden nach Palästina aus antisemi-
tischen Motiven grundsätzlich positiv gegenüberstanden, zählte Emmerich Czermak,
der letzte Vorsitzende der Christlichsozialen Partei vor 1934. Er hatte damit – unter
umgekehrten Vorzeichen – die Position des Zionismus übernommen : Jüdische Iden-
tität war für ihn unumstößlich eine nationale Identität. Auch das nationalsozialis-
tische Deutschland förderte explizit die zionistischen Organisationen, weil diese dem
Ziel eines „judenreinen Deutschland“ dienlich schienen.
Obwohl ganze Klassen des Chajes-Realgymnasiums in zionistischen, vor allem
linkszionistischen Jugendbünden beziehungsweise im „Verband Zionistischer Mittel-
schüler“ organisiert waren, wanderten nur wenige Schülerinnen und Schüler sowie
Lehrerinnen und Lehrer vor 1938 tatsächlich nach Palästina aus. Auch die Leitung
der Lehranstalt riet den Eltern, die Kinder angesichts des erst im Aufbau befindlichen
Ausbildungssystems in Palästina die Schule in Wien beenden zu lassen. Nach dem
„Anschluss“ konnten sich die Schülerinnen und Schüler des Chajes-Realgymnasiums
zu einem Großteil nach Palästina retten.
Die „Revisionisten“ und der Jugendbund „Betar“
Starke Impulse im Hinblick auf die Auswanderung nach Palästina kamen vor 1938
auch von der zionistischen Rechten in Österreich. 1935 traten die sogenannten „Revi-
sionisten“ aus der „Zionistischen Weltorganisation“ aus und gründeten unter Leitung
Binyamin Shimron, Das Chajesrealgymnasium in Wien 1919–1938, Tel Aviv 1989.
Anton Pelinka, „Emigration – aber nicht Flucht. Auswanderung aus Österreich nach Palästina vor
1938“, in : Hagen, Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit, S. 16.
Gleichzeitig lehnten die Nationalsozialisten jedoch die Idee eines jüdischen Staates vehement ab.
Anderl, Emigration und Vertreibung, S. 239 ; Shimron, Chajesrealgymnasium, 1989.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519