Page - 158 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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1 Klaus S. Davidowicz
In Arthur Schnitzler (1862–1931) jedoch sieht Buber denjenigen, der den Unter-
gang dieser wirren, dahin fiebernden Gesellschaft prognostiziert. Buber selbst hatte
sich von der jüdischen Tradition gelöst, konnte aber zunächst durch die zeitgenössi-
sche Kunst- und Literaturbewegung nicht zu einer neuen Orientierung und Identi-
tät finden. „Bald […] nahm mich der Wirbel des Zeitalters hin. Bis in mein zwan-
zigstes Jahr, in geringerem Maße auch darüber hinaus war mein Geist in stetiger
und vielfältiger Bewegung, in einem von mannigfaltigen Einflüssen bestimmten,
immer neue Gestalt annehmenden Wechsel von Spannungen und Lösungen, aber
ohne Zentrum und ohne wachsende Substanz : es war wahrhaftig der Olam ha-
Tohu, die Welt des Wirrsals, […] worin ich lebte – in beweglicher Fülle des Geistes,
aber wie ohne Judentum, so auch ohne Menschlichkeit und ohne die Gegenwart
des Göttlichen.“
In diese Zeit fällt auch seine Faszination für Friedrich Nietzsche (1844–1900), dem
er ebenfalls einen leidenschaftlichen Aufsatz widmet.
„Wisst ihr, oh meine Freunde, was das heisst Zarathustra lesen lernen, Zarathustra
lieben und leben lernen ? Wer von euch das nicht erfahren hat, der hat auch nicht an
Nietzsche gelitten, der ist auch nicht an ihm genesen.“ Zarathustra ist das Zeugnis
Bubers auf der Suche nach sich selbst, einer neuen Kunst und einer neuen Mensch-
heit. Nietzsche wird dabei zur Vision eines neuen Menschentyps. „Ein Unglück für
Nietzsche’s Lehre ist es, dass er anfängt, Mode-Philosoph zu werden. Was alles die
jungen Hamletchen von heute aus ihm herauslesen […] wie sie sich spreizen mit
ihren Mache-Individualitäten, an denen nichts individuell ist […]. Und die lieben
guten Backfischchen fangen sich schon auch an für Nietzsche zu interessieren, wie
dazumal für Darwin ; haben sich wohl an der Wollust-Angel Zarathustra festgebissen,
die lieben guten Backfischchen ! […] Ich habe die prächtigste Lust, das Lumpenpack
in Stücke zu reißen !“ Im Fin de Siècle stand Buber mit seiner Nietzsche-Begeisterung
keineswegs allein unter den jüdischen Denkern. Zu ihnen gehörte z. B. auch Stefan
Zweig (1881–1942). „Während der Lehrer über Schillers ‚Naive und sentimentale
Dichtung‘ seinen abgenutzten Vortrag hielt, lasen wir unter der Bank Nietzsche und
Strindberg, deren Namen der brave alte Mann nie vernommen.“9
Schließlich entdeckte Buber im Sommer 1898 durch die Anregung von Ahron Elias-
berg (1879–1937) Nathan Birnbaum (1864–1937) und seine zionistischen Schriften.
Er erkannte, dass der politische Zionismus eines Theodor Herzl (1860–1904) die
Martin Buber, Mein Weg zum Chassidismus, Frankfurt am Main, 1918, S. 16.
Buber, Werkausgabe 1, S. 106.
Buber, Werkausgabe 1, S. 115.
Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, Frankfurt am Main 1980, S. 55.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519