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1 0 Klaus S. Davidowicz
habe ich eigentlich nichts zu verdanken, wohl aber persönlichen Mitteilungen und
Anregungen, namentlich Berdyczewskis.“
Trotz der verschiedenen Beweg- und Hintergründe eines Micha Berdyczewski oder
Samuel Abba Horodezky (1871–1957) schufen diese Juden aus dem Osten ein neues
– uneinheitliches – Bild des Chassidismus. Ihre Sichtweisen wurden im Westen auf-
genommen und reflektiert. Buber fiel eine Vermittlerrolle zu. Beeinflusst von den
Schriften der hebräisch- und jiddischsprachigen ostjüdischen Denker filterte Buber
seinerseits das chassidische Gedankengut und schneiderte es auf das westjüdische
bzw. europäische Publikum zu.
Bubers Erfolg seiner deutschsprachigen chassidischen Nacherzählungen von 1906
und 1908 verdeckten für seine nicht-hebräisch lesenden Anhänger die Tatsache, dass
er sehr stark von der ostjüdischen Entdeckung des Chassidismus beeinflusst war.
Gershom Scholem schrieb in seinem Tagebuch von 1916 : „Ich las den Berdyczewski
zu Ende, das in manchen Teilen sehr schön ist, in anderen, z. B. dem letzten Aufsatz
‚Verneinung des Bestehenden‘ mich dagegen durchaus nicht erfreut hat. Es zeigt aber,
daß im Ostjudentum der Chassidismus vor Buber ‚modern‘ gewesen ist, denn das
Buch ist 1901 erschienen ; es scheint mir, als ob bei Buber der Einfluß Berdyczew-
skis in seinen chassidischen Schriften zu verspüren ist, sie scheinen sich dann später
gegenseitig beeinflußt zu haben. Berdyczewski ist aber offenbar bedeutend älter.“
Berdyczewskis Gedanken zeigten Buber, wie man mit Hilfe der bildenden Künste
eine Erneuerung des Judentums vorantreiben könnte. Mit dieser Form des Zionismus
war Buber in der Lage, das von Nietzsche beeinflusste Künstlertum mit jüdischen
Ideen zu verbinden. Wo allerdings Berdyczewski auf radikale Weise mit der gesamten
Tradition der Diaspora brach und an die biblische Vorzeit in seinem Zionismus an-
knüpfte, setzte Bubers anarchistische neue „Traditionskette“ ein. Buber konstruierte
ein Judentum, indem er jüdische Elemente mit Teilen der allgemeinen Kultur ver-
band. Dieses geschaffene Judentum setzte er auf romantische Weise mit einem Ur-
judentum in Verbindung. Um diese beiden miteinander zu verknüpfen, bildete er die
Traditionskette. Sie ermöglichte es Buber, den Talmud und die Halacha zu verneinen
und aus Sekten oder größeren Bewegungen eine neue Kette der Überlieferung mo-
saikartig zusammenzusetzen. Deren Glieder waren die Propheten, die Rechabiter, die
Essener, die Urchristen, kleine kabbalistische Zirkel im Mittelalter und der Chassidis-
mus. Sie fanden ihren Gegenpart im „offiziellen“ rabbinischen Judentum.
Buber war der Ansicht, dass das Judentum eine innere Verwandlung durch eine
menschlich-künstlerische Erneuerung benötige. Diese „Gegenwartsarbeit“ würde den
Buber, Briefwechsel I, Heidelberg 1972, S. 243.
Gershom Scholem, Tagebücher, 1. Halbband 1913–1917, Frankfurt am Main 1995, S. 423.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519