Page - 165 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Martin Bubers Weg zum Chassidismus 1
schen Jugendbewegung entstand eine natürlich höchst undifferenzierte sentimental-
romantische Verklärung und Idealisierung des Ostjudentums, und Buber hatte den
„Ostjudenkult“, wie ihn Scholem einmal genannt hatte, durch seine chassidischen
Arbeiten erst richtig entfacht. „Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass es da-
mals, besonders in den Jahren des Ersten Weltkrieges und kurz nachher, bei den Zio-
nisten geradezu so etwas wie einen Kult alles Ostjüdischen gab. Wir alle hatten die
ersten Bücher Martin Bubers über den Chassidismus gelesen […]. In jedem Juden
aus Russland, Polen, Galizien, der uns begegnete, sahen wir etwas wie eine Inkar-
nation des Baalschem und jedenfalls des unverstellten und faszinierenden jüdischen
Wesens.“ 0
Nachdem Buber erfolglos versucht hatte, eine wortgetreue Übersetzung zu ma-
chen, begann er sie in eigenen Worten nachzuerzählen. Dabei erweiterte er das Ori-
ginal des Rabbi Nachman, kürzte wiederum viele Passagen und veränderte den Stil.
„Fast unwillkürlich begann ich zu übersetzen, ein paar der eigentlichen Märchen
[…] wenn ich dabei an Leser dachte, so waren es keine andern als Kinder. Als ich fer-
tig war, schien mir, was vor mir lag, dürftiger, als ich vermeint hatte […]. So konnte
es nicht geraten : in der fremdsprachlichen Wiedergabe wurde die Entstellung nur
noch sichtbarer, die Urform nur noch verdunkelter. Ich merkte, durch Übertragung
ließ sich da die Reinheit nicht wahren, geschweige denn gewinnen – ich musste die
Geschichten, die ich in mich aufgenommen hatte, aus mir heraus erzählen […] [so]
erlebte ich, auch in den Stücken, die ich völlig neu einfügte, meine Einheit mit dem
Geiste Nachmans. Ich hatte die wahre Treue gefunden : zulänglicher als die unmittel-
baren Jünger empfing und vollzog ich den Auftrag, ein später Sendling in fremden
Sprachbereich.“
Diese Art und Weise der Übersetzung sollte man keinesfalls abwerten. Buber las
die chassidischen Texte im Original, übersetzte große Teile davon wortwörtlich und
begann sie danach umzuarbeiten, wie man anhand des erhaltenen Arbeitsmaterials
im Jerusalemer Buber-Archiv feststellen kann. Die Veränderungen des Textes verdeut-
lichen natürlich Bubers damalige kulturzionistische Position der „jüdischen Renais-
sance“. Buber wollte junge jüdische Menschen dazu bewegen, sich von der festgefah-
renen Starre der Religion zu befreien. „Ich habe die Geschichten des Rabbi Nachman
nicht übersetzt, sondern ihm nacherzählt, in aller Freiheit, aber aus seinem Geiste,
wie er mir gegenwärtig ist. Die Geschichten sind uns in einer Schülerniederschrift
erhalten, die die ursprüngliche Erzählung offenbar maßlos entstellt und verzerrt hat.
Wie sie uns vorliegen, sind sie verworren, weitschweifig und von unedler Form. Ich
0 Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, Jugenderinnerungen, Frankfurt am Main 1977, S. 60–61.
Buber, Mein Weg, S. 20–22.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519