Page - 208 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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0 Karin Wagner
endende Sphäre ihre Entsprechung hat. Dies korrespondiert ganz mit der Botschaft
des Mitternachtslieds : Nach dem Dunkel bleibt allein das Licht. An zwei Punkten
greift Zeisl minimal in den Text ein, das eröffnende „Oh Mensch“ wird wiederholt,
ebenso das bedeutungsschwere „Weh spricht : Vergeh !“, das harmonisch dem Anfang
entspricht. Genau hier und an den jeweils darauffolgenden Takten hebt die ansons-
ten konsequent syllabisch gehaltene Singstimme zu charakterstiftenden, signalarti-
gen Triolenmelismen an, die als hommageartiges Herbeizitieren von Mahlers Art der
Gestaltung in dessen Zweiter und Dritter Symphonie interpretiert werden könnten.
Mahlers Zweite Symphonie (Auferstehung) beschreibt „Wild herausfahrend“ in ihrem
Finalsatz mit besonderen orchestralen Mitteln eine Vision des Jüngsten Gerichts : Ein
„Fernorchester“ ist installiert, aus verschiedenen Richtungen erschallen die Trompe-
ten. Der vor der Nietzsche-Vertonung „Oh Mensch ! Gib Acht !“ stehende dritte Satz
Mahlers Dritter Symphonie bringt gleichfalls Trompetensignale und Posthornrufe aus
der Ferne. Durch das als solcherart Signale deutbare „mahlerische“ Melisma ist Zeisls
Trunkenem Lied rezitativischer, rhapsodischer Charakter immanent : Die Bariton-
stimme ruft gleichsam nach dem Geheimnis Zarathustras.
Intensiv rang Hugo Kauder um Antworten auf philosophische und musikästhe-
tische Fragen. Seine musiktheoretischen Ansätze – welche Zeisl wohl gekannt haben
muss – legte er in dem 1932 veröffentlichten Entwurf einer Neuen Melodie- und Har-
monielehre dar. Kauder stützt sich darin auf Rudolf Pannwitz’ Renaissance der Vokal-
musik aus dem Geiste und als Schöpfung des Kosmos Atheos aus dem Jahr 1926. Dieses
Werk propagiert eine Erneuerung der Musik : Ihr sollte wiedergegeben werden, was
sie im Altertum noch ganz, im Mittelalter nur mehr in Resten besessen und über die
Jahrhunderte hinweg verloren habe – „eine auf geistigen Grundtatsachen beruhende
Lehre“ . Hugo Kauder wollte diese Ansätze weiterentwickeln und im Sinne des Pos-
tulats allzeit gültiger geistiger Gesetze für seine Zeit brauchbar machen. Hauptinhalt
des Entwurfs sind die Darstellung der diatonischen Skala und die Vermittlung einer
Skalenlehre, die sich auch die tradierte Lehre von Harmonie, Kadenz und Polypho-
nie ohne Widerspruch zuordnen ließ. Hatte Kauder 1921 betont, charakteristisch
für moderne Musik wäre „das Streben nach dem Unbegrenzten : Aufhebung oder
vielmehr schrankenlose Erweiterung der Tonalität, Ausschaltung alles Gedanklichen
Immer wieder hat auch Kauder nach Nietzsche gearbeitet : Zwischen 1921 und 1926 entstanden Lieder
und Sprüche Zarathustras in den Teilen Ecce homo, Zarathustras Nachtlied, Wirf dein Schweres in die Tiefe,
Oh Einsamkeit !, Jenseits des Nordens, Venedig und Dies allein, zwischen 1922 und 1934 entstanden die
sechs Lieder Hälfte des Lebens, daraus Der Tag klingt ab, Der Herbst und Der Skeptiker spricht nach Texten
Nietzsches. 1933 vertonte Kauder Die Sonne sinkt für Solostimmen, Chor und Orchester, auch Das
trunkene Lied Zarathustras war ihm Grundlage für ein Chorwerk.
Hugo Kauder, Entwurf einer neuen Melodie- und Harmonielehre, Wien 1932, S. 5.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519