Page - 236 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Karin Stögner
In der aus der Wiener Alltagssprache überlieferten Identifikation von „Jud“ und „Kli-
toris“ drückt sich also eine Abspaltung der verhassten, Angst einflößenden, weil un-
kontrollierten Elemente der weiblichen Sexualität aus, während die all dem zugrunde
liegende Kastrationsangst in der weiblichen Klitoris physiologisiert und in der mit
dem weiblichen Organ verschmolzenen Imago des „Juden“ personalisiert wird. Freud
erblickte in der Kastrationsangst die Ursache von Antifeminismus und Antisemitis-
mus als Krankheit des „arischen“ Mannes , der fürchte, genau zu dem gemacht zu
werden, wofür sowohl die „Frau“ als auch der „Jude“ gesellschaftlich einstanden :
nämlich „kastrierte“, i. e. gesellschaftlich machtlose, nicht herrschaftsfähige Wesen.
Somit sind Antisemitismus und Misogynie gleichermaßen Ausdruck einer tiefen
Krise männlicher Identität und Sexualität. Die Kastrationsangst ist auch die Angst
vor dem Verlust der zur Gewährleistung der Einheit notwendig fest gefügten Gren-
zen. In engem Zusammenhang mit dem Zwang zur Einheit stehen Ganzheitsideo-
logien, die gerade um die Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg ganz groß im
Kurs waren : in der Kunst, etwa dem Jugendstil, ebenso wie etwa in der bürgerlichen
Jugendbewegung oder in der Lebensphilosophie. Diese Ideologien stellten einen Ver-
such dar, das autonome Subjekt gegen die fragmentierte Wahrnehmungswelt der Mo-
derne in Stellung zu bringen ; dabei verlor sich jedoch die Autonomie zum Teil sehr
rasch an ein hoch idealisiertes Konstrukt von Natur, das gerade zur Unterstützung des
autonomen Subjekts gegen die modernen großstädtischen Lebenswelten aufgerufen
ward. Und hier liegt auch die eigentliche Problematik dieser Ideologien : als vielleicht
legitime Reaktion gegen den Zerfall des Subjekts und als Streben nach einer „neuen
Zeit“ wurde gegen einen „Gegner“ angegangen, der eigentlich keiner war, nämlich die
modernen Lebenswelten der Großstadt und ihr geistiges Potenzial, gegen welche der
angeblich „reinen“, in Wirklichkeit aber verstümmelten Natur gehuldigt wurde. Das
neu zu entstehende autonome Subjekt verpuffte also sehr rasch in Rückschmelzungs-
visionen, Natur als Vorbild ist der Widergeist. Ein „Zurück zur Natur“ drückt den
Traum der Wieder- bzw. Neugeburt ohne die „hemmenden Geistfesseln“ (Ludwig
Klages) aus, eine Reaktion auf den Verlust der gesellschaftlichen Bindekraft der Reli-
gion im Zuge der Säkularisierungsprozesse. Der Wunsch nach autonomer Subjektivi-
tät und nach einem Standpunkt außerhalb der Gesellschaft, das Hinauswollen, zeigt
zugleich ein tiefes Unbehagen gegenüber den alles umfassenden und alles hereinho-
lenden Strukturen moderner Wahrnehmung und herrschaftlicher Identifizierung an,
Vgl. Sigmund Freud, „Der Fetischismus“, in : ders., Gesammelte Werke XIV, Frankfurt am Main 1999,
S. 311–317, S. 313.
Ludwig Klages, zitiert nach Ilse Korotin, „,Die mythische Weiblichkeit eines Volkes‘. J. J. Bachofen, das
Mutterrecht und der Nationalsozialismus“, in : Charlotte Kohn-Ley, Ilse Korotin (Hg.), Der feministische
„Sündenfall“ ? Antisemitische Vorurteile in der Frauenbewegung, Wien 1994, S. 84–130, S. 100.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519