Page - 237 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle
deren Teil er nichtsdestotrotz auch ist. Als letzter Versuch des Individuums, sich dem
Druck der gesellschaftlichen Anpassung entgegenzustemmen und den „Antagonismus
der Individualität und ihren ökonomischen und sozialen Existenzbedingungen“
auszutragen, sind die Ideologien des Fin de Siècle freilich nicht mit dem Faschismus
vergleichbar, der Anpassung gegen alle Individualität setzt. Die Schlagseite der über-
höhten Natur aber gab letztlich doch die Richtung an, die das neu sich zu konstituie-
rende autonome Subjekt im Keim ersticken ließ und Antisemitismus und Misogynie
weitere Nahrung zuführte. In diese widersprüchlichen Konstellationen von Identität
und deren Aufgehen in einer mythischen Vorstellung von Natur, die selbst wesentlich
in der Unterdrückung von Natur bestand, von intellektuellem Antiintellektualismus
mit seiner spezifischen Verbindung von Mythos und Rationalität, die diesem wider-
spricht, sind die vergeschlechtlichten und rassistischen Bilder von Juden und Frauen
eingebettet. So erscheint Natur regelmäßig zweigeteilt : in die niedere, animalische,
mit Schmutz und Unreinheit assoziierte Natur, der die überhöhte Natur, etwa in der
Apotheose der Männlichkeit und der Lobpreisung des starken und schönen physi-
schen Körpers gegenübergestellt wird. Die Attribute weiblich und männlich sind in
solchem Schema eindeutig zugeordnet : „Weiblich“ steht fürs „Niedere“, zu Über-
windende, Archaisch-Zurückgebliebene, während „männlich“ für das steht, was der
„dekadenten Zivilisation“, der Moderne mit ihren urbanen Lebensweisen heldenhaft
zu entsagen und ein Zurück zu einer übermächtigen Natur suggeriert. Beide Vor-
stellungen sind Ergebnis der herrschaftlichen Zurichtung von Natur, die alles, auch
Menschen, zur bloßen Verschubmasse und Materie der Verfügung macht. Damit sind
sie in der Dialektik von Fortschritt und Regression angesiedelt, was sie erst recht der
Epoche zugehörig entlarvt. Im Freiluftwesen und der Körperkultur des Jugendstils
und der Jugendbewegung etwa fanden neue Mythologisierungen statt, welche eine
Hereinholung des furchterregenden Extérieurs bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung
der Triebversagung bewerkstelligten. Der Jugendstil zeichnete den weiblichen Körper
daher mit Vorliebe geschlechtslos, magersüchtig und durchscheinend weiß. Nichts
Lebendiges ist an ihm, ikonenhaft erinnert er vielmehr an eine „Schöne Leiche“. Als
artifizielles Konstrukt ist dieser Körper zugleich in den Naturzustand versetzt und
zeigt gerade die Verbindung von Natur und Technik in der Neuauflage des Mythos
an, welche für die völkischen Aufbrüche kennzeichnend ist, wo sich Vernunft gegen
sich selbst kehrt. Das Grundmotiv des Jugendstils ist die Verklärung der Unfrucht-
barkeit ; in der Vergeistigung, die er bis in den weiblichen Schoß hineinträgt, stimmt
er in die allgemeine Verhöhnung des Körpers gerade durch seine Erhöhung als lilien-
weiß reinen ein. Als die immanente Kehrseite der völkischen Vorstellung von Natur
Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 127.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519