Page - 238 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Karin Stögner
als dem Widergeist wird die Entleiblichung der Ingroup zelebriert. Die schaurige
Materialisierung des getretenen Leiblichen in den Figuren des „effeminierten Juden“
oder der „maskulinisierten Jüdin“ gehört diesem Komplex notwendig zu, in dem
Geistfeindschaft und Körperfeindschaft sich überkreuzen.
Wo aber in diesem Schema von Natur ordnet der Antisemitismus das Jüdische ein ?
Die Identifikation mit der „anderen Rasse“ nimmt schnell die Bedeutung an „eine
niederere Art als der Mensch und deshalb bloße Natur“. Da jedoch das Bild des
Juden die Ambivalenz der Antisemiten und Antisemitinnen widerspiegelt, bedeutet
es nicht nur bloße Natur, sondern gleichzeitig ein Zuwenig an „Natürlichkeit“ infolge
eines unterstellten Zuviels an Zivilisation. Juden und Jüdinnen waren im Wahrneh-
mungsrahmen der Jahrhundertwende die RepräsentantInnen einer sich selbst über-
holenden Moderne, deren Krisenerscheinungen unter den Schlagworten „Feminisie-
rung der Kultur“ bzw. „Dekadenz“ diskutiert wurden. Motiviert waren diese Diskurse
auch von einem Verlust der traditionellen Männlichkeit. Gerade die Identifikation
mit einer bis zur „Dekadenz“ vorangetriebenen Zivilisation berührt sich mit ihrem
scheinbaren Gegenteil, dem Naturhaften, Mimetischen. Der Antisemitismus hat sich
dem bürgerlichen Ideal der Mitte verschrieben : Zwischen der ungebändigten Natur,
die er fürchtet, und der Zivilisation, die er verabscheut, hat er sein Ideal der „Natür-
lichkeit“ errichtet. Die Konstruktion des Judenbildes widerspricht diesem Amalgam
der Mitte, indem die beiden Pole, Natur und Zivilisation, ungeschieden in es ein-
gebracht werden. Durch diese absonderliche Verbindung gelingt es, im Judenbild
sowohl Natur als auch Zivilisation zu bannen.
Um die Bedeutungsbreite des auf der Differenz der Geschlechter aufbauenden
Bildes der „Jüdin“ zu erfassen, ist es notwendig, ihr männliches Pendant, nämlich
den „hässlichen, lüsternen Juden“, immer mitzudenken. An dieses Bild des jüdischen
Mannes schließt auch die Umkehrung der „belle juive“ hin zu einer unterstellten
körperlichen „Defizienz“ und geistigen „Monstrosität“ an, die im misogyn-antise-
mitischen Vorurteil nicht minder präsent ist, und das oftmals in ein und demselben
Bild : in der Vorstellung nämlich, dass dem jüdischen Körper etwas „Krankes“ und
„Primitives“ innewohne, was mit der Darstellung dieses Körpers als Ort der Anders-
artigkeit fest verknüpft ist. So widersprechend die Bilder des Juden und der Schönen
Jüdin auf den ersten Blick sein mögen, sind sie doch nicht Ausdruck konkurrierender
Vorstellungen vom „Jüdischen“. Selbst die Schönheit der „Jüdin“ ist überschattet von
„degenerierter Natur“ und einem Mangel an „authentischer Natürlichkeit“.
Zwei zentrale Aspekte des Fremden – der „geschlechtliche“ wie der „rassische“
– gehen im Bild der Jüdin auf direkte Weise ineinander über, dabei schiebt sich „eine
Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 118.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519