Page - 243 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle
ten Frau einlasse, sondern seine „Samenkontinenz“ hüte, bewahre die Zivilisation
davor, von den AgentInnen der Verweiblichung überrannt zu werden. Freiheit
sowohl im Geschlechtsleben als auch im Geldverkehr widerspricht der völkischen
Verbundenheit mit der Scholle und beinhaltet eine Abstraktion, die der Antisemit
nicht ertragen kann. So schrieb etwa Ludwig Langemann in seinem Aufsatz „Die
Zusammenhänge zwischen Semitismus, Demokratismus, Sozialismus und Feminis-
mus“ im Jahr 1919 : „Wo der jüdisch-demokratisch-feministische Mammongeist
den nationalen Heldengeist erst völlig vernichtet hat, ist eine Wiedergeburt ausge-
schlossen, da steht der Untergang vor der Tür.“ Den Materialismus als spezifisch
weibliche und jüdische Schwäche zu interpretieren, entsprach in dieser Zeit gän-
gigen Klischees und zog sich zuweilen quer durch die politischen Lager. Frauen-
emanzipation als Ausgeburt des Materialismus, der die Frauen ihrer angestammten
Mutterrolle entfremde, war eine weit verbreitete Einstellung. Dass die Juden für
diese Entwicklung verantwortlich zeichnen würden, ist hingegen eine für den Anti-
semitismus charakteristische Personalisierung allgemeiner gesellschaftlicher Verhält-
nisse. So schrieb etwa Gottfried Feder, späterer Mitbegründer und Programmatiker
der nsDaP : „Durch die Kräfte der sexuellen Demokratie hat der Jude uns die Frau
gestohlen. Unsere Jugend muß sich erheben, um den Drachen zu töten, damit wir
von Neuem die heiligste Sache der Welt erlangen können, die Frau als Jungfrau und
Dienerin.“
In schematisch reduzierter Wahl der Motive bildender Kunst jener Zeit erscheinen
in ewiger Wiederkehr die Judiths, Salomes und Dalilas ; Frauengestalten, in denen
Antisemitismus und Antifeminismus verbunden werden konnten. Sie repräsentierten
Bram Dijkstra, Das Böse ist eine Frau. Männliche Gewaltphantasien und die Angst vor der weiblichen Se-
xualität, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 374.
Zitiert nach Annette Kuhn, „Der Antifeminismus als verborgene Theoriebasis des deutschen Faschis-
mus. Feministische Gedanken zur nationalsozialistischen ,Biopolitik‘“, in : Leonore Siegele-Wenschke-
witz, Gerda Stuchlik (Hg.), Frauen und Faschismus in Europa. Der faschistische Körper, Pfaffenweiler
1990, S. 39–50, S. 45.
Shulamit Volkov, „Antisemitismus und Antifeminismus : Soziale Norm oder kultureller Code“, in : dies.,
Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays, München 2001, S. 62–81, S. 77.
Zitiert nach Margarete Mitscherlich-Nielsen, „Überlegungen einer Psychoanalytikerin zum Hitlerreich.
Über männliche und weibliche Werte damals und heute“, in : Leonore Siegele-Wenschkewitz, Gerda
Stuchlik (Hg.), Frauen und Faschismus. Der faschistische Körper, Pfaffenweiler 1990, S. 23–28, S. 28. Sig-
rid Weigel interpretiert das aus den Mythologien überlieferte Motiv des Drachens vor den Stadtmauern
als Sinnbild für ungebändigte Natur, die auch in der weiblichen Sexualität gefürchtet wurde. Das Töten
des Drachens versinnbildlicht insofern auch den Sieg über die unintegrierten und nicht verstandenen
Aspekte der weiblichen Sexualität und die Festigung und (Re-)Etablierung der „domestizierten“ und
entsexualisierten Aspekte von Weiblichkeit innerhalb der Männergesellschaft (cf. Sigrid Weigel, Topogra-
phien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 175f.).
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519