Page - 246 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Karin Stögner
unreinigung deutschen Blutes“ bereit. Wenn auch unbewusst, sei die „Frau“ aufgrund
einer ihr unterstellten Natur zum Betrug am „Volk“ prädisponiert.
Das Moment der Bewusstlosigkeit ist in den vielen Repräsentationen der Lulu
charakteristisch, in ihr wandelt sich die autonome „sexuelle Frau“ zur intentionslosen
Verderberin und Verräterin, sie „ist nicht mehr Partnerin, sondern das Ganzandere,
das sich aller Gemeinschaft entzieht“. In G. W. Pabsts Film Die bÜchse Der Pan-
Dora von 1929 heißt es : „Aber die Götter gaben ihr [Pandora] ein Kästchen, in das
sie alles Böse der Welt schlossen. Die achtlose Frau öffnete die Büchse, und das Unheil
kam über uns !“ Lulu war die moderne Pandora und wurde zum „Ferment der Zer-
setzung“, da sie es erlaubt hatte, dass ihr „Kästchen“ von einem „erotikversessenen Ju-
den“ geöffnet wurde. Es ist die Tragödie über die Ausplünderung der Welt durch den
„Ewigen Juden“ Shigolch und sein gefährlichstes Werkzeug, die sexuelle Frau. Auf-
grund seiner pointierten Geschlechterimagines und vielschichtigen Transgressionen
von Sexualnormen ist dieser Film besonders aussagekräftig. Die Tabubrüche betreffen
in erster Linie die heterosexistischen Normen, aber auch an das Inzesttabu wird ge-
rührt. Lulu begeht diese Tabubrüche ohne Intention und Reflexion. Identitätslos wie
Natur walten ihre Sinne besinnungslos – sie ist der Inbegriff des naturhaften, monst-
rösen Vamps. Dennoch gestattet ihr der Film, sich an manchen Stellen von Natur im
Sinne der Herkunft loszusagen, indem sie Shigolch als ihren ersten Mäzen ausgibt,
nicht als ihren Vater. Erst später schreit sie das Verwandtschaftsverhältnis hinaus. Bis
dahin glaubte das Publikum an eine normale ausbeuterische Liebesbeziehung zwi-
schen einem „alten hässlichen Juden“ und einer schönen jungen Frau ; nach dem
Bekenntnis verkehrt sich diese Beziehung unversehens in eine inzestuöse und gleich-
zeitig ist die unausgesprochene Erklärung für Lulus unwillentliche Unruhestiftung
gefunden : in der Tatsache, dass sie von nun an fürs Publikum „jüdisch“ ist. Dr. Schön
verfällt ihr und betrügt seine schöne blonde Ehefrau, die die andere Seite von Weib-
lichkeit repräsentiert : sanft, vertrauensvoll, nicht fordernd, schön, aber unerotisch,
blond, adelig. Sie zieht von dannen, als sie hinter das Verhältnis ihres Ehemannes Dr.
Schön mit Lulu kommt – und ward nicht mehr gesehen ; wahrscheinlich Rettung in
letzter Minute vor dem durch die „Jüdin Lulu“ infizierten Dr. Schön – wobei auch
sein Name eine Anspielung auf „Jüdischsein“ ist, wie im Übrigen auch sein Beruf :
Zeitungsmacher und Mitinhaber eines Revuetheaters. Dr. Schön leidet an seiner Lei-
denschaft und zeigt dies ganz offen, womit er mitnichten dem männlichen Ideal der
aufrechten Körpergrenzen entspricht. Schwach ist er und immer wieder übermannt
Mayer, Außenseiter, S. 131.
Zitiert nach Dijkstra, Das Böse ist eine Frau, S. 545.
Ebd., S. 546.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519