Page - 271 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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„Being different where being different was definitely not good“ 1
Frauen aus Familien, die bereits seit mehr als einer Generation in Wien ansässig
waren, orientierten sich häufig viel stärker an einer kulturell ausgerichteten Identität,
indem sie sich als Wienerinnen jüdischer Religion definierten, wobei dies vielfach
nur eine formale Mitgliedschaft in der Gemeinde beinhaltete. Häufig wurde jüdische
Identität als unbequemer Geburtszufall abgetan, spielte jedoch im sozialen Verkehr
weiterhin eine Rolle. Die Familie der Musikerin Charlotte Bamberger, 1904 in Wien
geboren, kann hierbei als exemplarisch angeführt werden. Charlottes Vater, Albert
Hammerschlag, war ein renommierter Wiener Arzt, der unter anderem auch zum
Bekanntenkreis Sigmund Freuds zählte. Charlotte beschreibt ihre Kindheit in einem
gut situierten, liberalen Familienmilieu, in dem religiöse Traditionen keine Bedeu-
tung hatten und jüdische Feiertage nicht eingehalten wurden. Dennoch war sie sich
ihrer jüdischen Herkunft bewusst, wenn dies für sie auch mehr eine Zugehörigkeit zu
einem bestimmten sozialen Kreis bedeutete. Die Bedeutung der Identitätsverortung
weiter Teile des jüdischen Bürgertums als Österreicher jüdischer Konfession wird bei
Gerda Lederer besonders deutlich, die ihr Elternhaus wie folgt charakterisiert : „[…]
being Viennese, having my father being born there, having him serve in the First
World War, decorated in the army, and having friends of all groups and classes in
Vienna, my parents – especially my father – felt very Austrian. My father was a Jewish
Austrian, not an Austrian Jew. He could not see being anything but Austrian, that was
deeply engrained in him.“
Neben dem Österreichpatriotismus der jüdischen Bevölkerung wird im Rahmen
dieses Zitates auch der emotionale Aspekt der Entwurzelung im Zuge der Emigration
angedeutet, den ihr Vater zeit seines Lebens nie überwand. Ein Teil der integrierten
jüdischen Bevölkerung Wiens hatte sich bereits so weit von seinen Wurzeln entfernt,
dass er keine Beziehung zu traditionellem jüdischem Leben mehr aufwies, wie die
Lebenserinnerungen der 1922 in Wien geborenen Joelle Beer verdeutlichen. Sie be-
schreibt ihr Familienmilieu wie folgt : „We were Austrians, first, Jewish, second. We
were part of the Austrian culture. Living in a completely integrated area, we, daugh-
ters of the ,Herr General Direktor‘, had no stigma of Judaism attached to us […] We
were not part of the Jewish ,ghetto‘ of the second district. It seemed as far removed
from us as the torture chambers of the Middle Ages. We got near that area occasion-
ally when we swam in the Dianabad, which bordered that district. We saw black
bearded old men with fringes on their clothes. We didn’t understand that we had the
slightest connection with these men.“ 9
Charlotte Bamberger, Interview der Austrian Heritage Collection, ahc 59, New York 1996.
Gerda Lederer, privates Interview, New York 2000.
Joelle Beer, The Apartment, Memoir Collection am Leo Baeck Institute, me 926, usa 1973, o. S.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519