Page - 328 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Hanno Loewy
zum Volk, den er schon während des Krieges begonnen hat, verhandelt mit Verle-
gern, schreibt neue Ballette und dramatische Szenen für Musikbegleitung9, betreibt
die Aufführung seines Stücks Tödliche Jugend 0 und wird in den Salon von Genia
Schwarzwald eingeführt, zu der er schon von Budapest aus Kontakt unterhielt. Er
orientiert sich in den verschiedenen Wiener Kaffeehäusern und den entsprechenden
Stammtischen, von Max Reinhardt bis zu Robert Musil, mit dem Balázs bald nähere
Bekanntschaft schließen wird.
Das Jahr 1920 geht so mit Experimenten und Gelegenheitsarbeiten vorüber. Anna
erduldet einmal mehr Balázs’ Promiskuität, die nun auch noch zum literarischen Ex-
periment wird. Anfang 1920 lernt Balázs im Salon von Genia Schwarzwald die däni-
sche Schriftstellerin Karin Michaelis kennen. Mit ihr beginnt eine leidenschaftliche,
oder genauer : eine hysterisch anmutende Romanze. Zwischen Reichenau und Wien
hin und her pendelnd, die Premiere der Tödlichen Jugend vorbereitend und schließ-
lich mit einer schweren spanischen Grippe ans Bett gefesselt, beschäftigt Balázs zwei
Monate lang drei Frauen gleichzeitig, rund um die Uhr, denn auch mit Michaelis’
Freundin Maria Lazar flirtet er, mit dramatischen Folgen. Als er genesen ist, folgt
eine Woche allein mit Karin Michaelis, die – so zumindest planen es die beiden
– den Höhepunkt und Abschluss des ganzen Abenteuers bedeuten soll. Michaelis
und Balázs beschließen, einen Tagebuchroman zu schreiben, Balázs das Tagebuch des
Mannes, Karin Michaelis das der Frau. Für Anna Balázs ist damit das Maß des Erträg-
lichen überschritten. Sie droht : mit Edith nach Russland zu gehen und Balázs seinem
Beziehungschaos zu überlassen. Am Ende aber wird sie bleiben, und das Buch wird
geschrieben.
So z. B. 1920 das Ballett Die Schatten. Ein pantomimischer Bühnentrick, das von Franz Salmhofer ver-
tont worden ist. Im November 1922 entstand die „Szene mit Orchesterbegleitung“ mit dem Titel „Das
Melodrama“, der Monolog einer verlassenen Frau, die an ihre verzweifelte Liebe erinnert wird, sich in
den Wahnsinn verliert und schließlich den Tod findet.
0 Das Stück wird schließlich von der Neuen Wiener Bühne akzeptiert. Balázs soll selbst die Regie über-
nehmen, doch noch ist die Situation für die von Ungarn verfolgten Flüchtlinge in Wien zu unsicher.
Balázs und seine Frau ziehen sich zunächst nach Reichenau zurück.
Musil war schließlich der erste, der die Bedeutung von Balázs’ erstem Buch über den Film tatsächlich
begriff : als Reflexion über die Beziehung der Kunst zu jenem „anderen Zustand“, dem wir uns eher mit
den Mitteln der Psychoanalyse (Freuds Traumdeutung) und der Ethnologie (Lévy-Bruhls Theorien über
Magie und „primitives Denken“) annähern könnten. Siehe Robert Musils Rezension von Balázs’ Buch
Der sichtbare Mensch : „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films“, in :
ders., Gesammelte Werke 8 (1925), Reinbek 1978.
Maria Lazar unternimmt in dieser Zeit einen erfolglosen Selbstmordversuch mit einer Überdosis Vero-
nal.
Jenseits des Körpers : Tagebuch eines Mannes und einer Frau. Die ungarische Ausgabe erschien in Wien :
Béla Balázs, Karin Michaelis, Túl a testen : Egy férfi és egy nö naplója. Wien : Bécsi Magyar Kiadó, 1920.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519