Page - 338 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Hanno Loewy
stehende in Trümmer legt, um seine Wege hindurchzubahnen, ist Balázs’ Wanderer
die Welt ein einheitlicher Kosmos der Fremdheit, durch den er berührungslos hin-
durchzuschweben versteht. Die Dinge setzen ihm keinen Widerstand entgegen. Nie
kommt er zur Ruhe, seine Bewegung hat kein Ziel, wohl aber eine Richtung, eine
Sehnsucht, von der sie getragen wird. Balázs schildert die verschiedensten Möglich-
keiten, sich durch das Land zu bewegen, doch ihre Differenz liegt nicht in der Form
ihrer Bewegung, sondern in der Wahrnehmung des erfahrenen Mediums. „Denn
nicht wie sie über das Land gehen, sondern wie sie über das Land schauen, das macht
es aus. Ihr Verhältnis zur Welt. Nicht verschiedene Gangarten sind das, sondern ver-
schiedene innere Zustände.“ Der Wanderer ist der Distanzmensch schlechthin, der
„geborene Fremdling. Er hat keine Heimat verloren – und kann auch keine finden.
Denn er ist von Natur fremd, und die Distanz zu jeder möglichen Umgebung ist der
Kern seines Wesens.“ Entscheidend ist, dass er sich den Objekten nicht nähert und
sich darum auch nie von ihnen entfernen kann, seine „Distanz zu allen Dingen und
Menschen ist seine Distanz zum Leben überhaupt und darum geschieht ihm, bei
jeder zufälligen Begegnung, immer sein ganzes Schicksal“.
Er lebt in einem Zwischenreich, wo die Kategorien von Nähe und Distanz nicht
mehr gelten, sondern alles bedeutsam, referentiell wird. Alles wird symbolisch, doch
indem es symbolisch wird, bedeutet es nicht mehr ein anderes, nicht mehr ein Zei-
chen für etwas, sondern alles zugleich. „Der Wanderer ist ein Symbolist und hat den
metaphysischen Verfolgungswahn, indem er jede Landschaft für ein Bilderrätsel an-
sieht, das ihn meint.“
Dieser Wanderer erträgt keine Enge. Wenn die Dinge an ihn heranrücken, gerät
er in Panik. Den Wanderer treibt es auf die Straße, in Häusern wächst die Spannung
ins Unerträgliche. So ist er zur Treulosigkeit gezwungen. Zu Hause ist er nur auf der
Straße, „er findet seine Ruhe nur im Wechsel. Bewegung und Abenteuer sind seine
natürlichen Lebensformen. Besser gesagt : Das Verbleiben, der Anschein, Heim und
Herd zu haben, ist für ihn ein seltsames und immer beunruhigendes Abenteuer.“
Die Bindung an ein Objekt, an Freunde, Familie, eine Gemeinschaft erlebt der Wan-
derer als bedrohlichen Zwischenfall, selbst wenn er ein Leben lang dauern sollte. In
seinem Element ist der Wanderer, wenn er enge Objektbeziehungen vermeidet : „Für
den Wanderer ist jeder Abschied ein Bekenntnis.“
Balázs, Der Phantasie-Reiseführer, S. 9.
Ebd.
Ebd., S. 10.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519