Page - 348 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Elisabeth Brainin · Samy Teicher
Siegfried Bernfeld und Elisabeth Neumann-Viertel, also Theater und Musik, die Ver-
bindung von Bernfeld und Käthe Leichter aus der sozialistischen Jugendbewegung,
die Verbindung zu Edith Kramer und der Entwicklung der Kunsttherapie, die Ver-
bindung von Josephine Stross zu Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld. Stross war als
Kinderärztin an der Marienthalstudie beteiligt und führte kostenlose Sprechstunden
für die arbeitslosen Familien in Marienthal durch. Die Marienthalstudie war eine
soziologische Feldstudie über die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit.
Es entstand eine Subkultur von Wissenschaftlern, Künstlern, Bohemiens, die wie
so vieles durch den Nationalsozialismus gewaltsam zerstört wurde. 1968 wurden viele
Ideen der Zwanzigerjahre wieder aufgegriffen, die bereits damals eine Avantgarde-
funktion hatten. So wurde das „Projektlernen“, das heute in vielen Schulen als Me-
thode selbstverständlich ist, an der freien Schule in Hietzing entwickelt, 1968 wieder
als revolutionäre Lernmethode von der Studentenbewegung propagiert. Die „sexuelle
Revolution“ von 1968 berief sich auf psychoanalytische Texte der Zwanziger- und
Dreißigerjahre, die 1968 zunächst als Raubdrucke Verbreitung fanden.
Es wurde ein psychoanalytisches Ambulatorium gegründet, das in den Räumen der
Wiener Poliklinik untergebracht wurde und erstmals die Möglichkeit bot, die Psycho-
analyse für Bevölkerungsschichten anzubieten, die sie sich bisher nicht leisten konn-
ten. Die Ergebnisse der psychoanalytischen Arbeit mit armen Bevölkerungsgruppen
schlugen sich in den aufklärerischen Schriften zu Sexualität und Sexualmoral nieder.
Freud selbst war eine angesehene und viel beachtete Persönlichkeit in der öster-
reichischen Öffentlichkeit geworden. Dies alles spiegelt sich nicht zuletzt in Presse-
berichten wider. Marina Tichy hat die Texte zur Psychoanalyse in der Neuen Freien
Presse untersucht und eine Statistik für die Jahre 1920–1938 zusammengestellt, wobei
ein Einbruch nach 1934 bezeichnend ist. 1920 finden sich acht Texte, im Jahr 1929
finden sich 96 Texte, um dann stetig zurückzugehen, 1934 sind es noch 24 Texte, die
schließlich auf 2 Texte 1938 zur Psychoanalyse in der Neuen Freien Presse zurückgin-
gen. Die Neue Freie Presse hatte einen neuen katholischen Eigentümer erhalten, der
entsprechend der austrofaschistischen, klerikalen Ideologie Einfluss auf die Auswahl
und Gestaltung kultureller Themen nahm. Es erschienen regelmäßig Texte von Psy-
choanalytikern zu gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fragen. Freud kam auch
selbst zu Wort, es gab Rezensionen über die wichtigsten psychoanalytischen Neu-
erscheinungen, die größtenteils von Psychoanalytikern verfasst wurden.
Die sogenannte Reik-Affäre 1926 spiegelte sich in der Neuen Freien Presse wider.
Reik, ein „Laienanalytiker“, d. h. ein Nichtarzt, der Sekretär der Wiener Psychoanaly-
Kinderärztin, die Sigmund Freud 1938 als Ärztin nach England begleitete und die später in Hampstead
eine Mutterberatung führte.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519