Page - 351 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Die Zukunft und das Ende einer Illusion 1
der eine moderne Auffrischung der Aufklärungsideen des achtzehnten Jahrhunderts
wäre, was Freud auch nie leugnete. Im Gegenteil, er sah sich in einer Reihe mit den
Männern der Aufklärung, und nichts bewegte und rührte ihn zu seinem achtzigsten
Geburtstag 1936 mehr als seine Aufnahme in die „Royal Society of Medicine“, der
auch Newton und Darwin angehören. Freuds Kommentar zu diesem Anlass in einem
Brief an Zweig : „Die unerwartete Ehrung hatte mich unlängst getroffen, daß ich ein-
stimmig zum Ehrenmitglied der ,Royal Society of Medicine‘ gewählt wurde. Es wird
in der Welt draußen einen guten Eindruck machen.“ 0
Pfister hatte recht behalten, was die reale gesellschaftliche Entwicklung betraf.
Ideologien wurden im zwanzigsten Jahrhundert zu Ersatzreligionen, während die
wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen Freuds bestehen blieben.
In seiner „Nachschrift zur Selbstdarstellung“ schreibt Freud 1935 über die Arbeiten
der letzten zwanzig Jahre : „[…] Zwar habe ich in diesem letzten Dezennium noch manch
wichtiges Stück analytischer Arbeit unternommen, wie die Revision des Angstproblems
in der Schrift ‚Hemmung, Symptom und Angst‘ 1926, oder es gelang mir 1927 die glatte
Aufklärung des sexuellen ‚Fetischismus‘ ; aber es ist doch richtig zu sagen, dass ich seit
der Aufstellung der zwei Triebarten (Eros und Todestrieb) und der Zerlegung der psy-
chischen Persönlichkeit in Ich, Über-Ich und Es (1923) keine entscheidenden Beiträge
mehr zur Psychoanalyse geliefert, […] Immer klarer erkannte ich, dass die Geschehnisse
der Menschheitsgeschichte, […] als deren Vertretung sich die Religion vordrängt, nur die
Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich sind, welche die
Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert. […] In die ‚Zukunft einer Illusion‘ hatte
ich die Religion hauptsächlich negativ gewürdigt ; ich fand später die Formel, die ihr
bessere Gerechtigkeit erweist : ihre Macht beruhe allerdings auf ihrem Wahrheitsgehalt,
aber diese Wahrheit sei keine materielle, sondern eine historische.“
„Das Unbehagen in der Kultur“ war unter anderem eine Auseinandersetzung mit
dem Kommunismus, wobei Freud betonte, dass die Aggressionsneigung der mensch-
lichen Natur inhärent sei und die einzige Hoffnung die Sublimierung biete. Zum
Verhältnis von Psychoanalyse und Faschismus oder Bolschewismus meinte Freud :
„Zu Pfingsten hatten wir den Besuch unseres tapferen Mitarbeiters Edoardo Weiß aus
Rom. Mussolini macht der psychoanalytischen Literatur große Schwierigkeiten. Die
Analyse kann unter dem Faschismus nicht besser gedeihen als unter dem Bolschewis-
mus und dem Nationalsozialismus. Gott hat da vieles zu bessern.“
der Schweiz und gehörte zum Kreis der Zürcher Schule der Psychoanalyse um Bleuler und C. G. Jung.
Unabhängig von ihnen versuchte er eine Synthese von Theologie und Psychologie.
0 Sigmund Freud – Arnold Zweig. Briefwechsel, Frankfurt am Main 1980, S. 118.
Sigmund Freud, „Nachschrift zur Selbstdarstellung“ (1935a), in : GW XVI, S. 32ff.
Freud – Zweig. Briefwechsel, S. 118f.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519