Page - 352 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Elisabeth Brainin · Samy Teicher
In seinem letzten Lebensjahr, das Freud in London verbrachte, konnte sein letztes
Werk, Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), gedruckt erscheinen.
Er hatte damit bereits 1934 begonnen, fürchtete damals jedoch, dass seine Religions-
theorie im austrofaschistischen, katholischen Österreich mit dem Erscheinen dieses
Buches zu erheblichen Schwierigkeiten für die Psychoanalyse führen könnte.
Die Republik brachte der jungen Wissenschaft unter anderem durch den unbe-
schränkten Universitätszugang für Juden wie auch für Frauen unerhörten Zulauf.
Den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren folgte ein wirtschaftlicher Aufschwung,
der auch Patientenzulauf mit sich brachte. Der Antisemitismus Luegers schien in
Wien überwunden, aber dunkle Vorzeichen des kommenden Naziterrors waren auch
in Österreich zu bemerken. So schreibt Freud 1936 in einem Brief an Arnold Zweig :
„Österreichs Weg zum National-Sozialismus scheint unaufhaltbar. Alle Schicksale ha-
ben sich mit dem Gesindel verschworen.“ Und 1937 schreibt Freud an Zweig : „Die
Regierung hier ist eine andere, aber das Volk ist dasselbe, in der Anbetung des Anti-
semitismus durchaus einig mit den Brüdern im Reich.“ – Bis zur Eintragung „finis
Austriae“ in Freuds kürzester Chronik war es nur mehr ein Jahr.
Bis zuletzt versuchte Freud, sich selbst zu beruhigen, so schrieb er etwa an sei-
nen Sohn Ernst im Februar 1938 : „Unser Schuschnigg ist ein anständiger, mutiger
und charaktervoller Mensch.“ Freud klammerte sich an eine unsichere Hoffnung
und fragte in diesen Tagen Marie Bonaparte : „Wird es immer noch möglich sein im
Schutze der katholischen Kirche Sicherheit zu finden ?“
Für Freud bedeutete das Ende Österreichs den Beginn seiner Flucht nach England,
die er gemeinsam mit seiner Familie, dank der Hilfe von Ernest Jones und vor allem
von Marie Bonaparte, antreten konnte. Er war bereits ein alter, sehr kranker Mann.
Anna Freud war für einen Tag im März 1938 in Gestapo-Haft, danach schwanden
alle Zweifel bei Freud, nicht auszuwandern. Die WPV beschloss ihre Auflösung bereits
am 13. März, der psychoanalytische Verlag wurde von den Behörden beschlagnahmt.
Bereits im Mai konnten die ersten Mitglieder der Familie Freud Wien verlassen, und
schließlich folgte am 4. Juni Freud nach. An Max Eitingon schreibt Freud in seinem
ersten Brief aus London : „Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark
mit der Trauer, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer
noch sehr geliebt.“
Ebd., S. 142ff.
Ebd., S. 136.
Zitiert nach Peter Gay, Freud, Frankfurt am Main 1989, S. 693.
Ebd., S. 694.
Ebd., S. 707.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519