Page - 364 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Sandra Goldstein
ihn auch nicht, dass sie statt der üblichen weißen Haube einen hohen, grasgrünen
Hut mit einer langen roten Feder an der Seite trug […] Gordweil wusste, dass er
sich vor ihr in acht nehmen musste, ihr aus einem ihm unbekannten Grund nicht
nahekommen durfte. […] Er lehnte sich an die Wand und sah zum Fenster gegenüber
hinaus. Dort sah man ein sehr hohes Haus mit vielen Stockwerken und zahllosen
Fenstern, was Gordweil verwunderte. Ich habe gar nicht gewusst, dass man auch in
Wien schon angefangen hat, Wolkenkratzer wie in Amerika zu bauen. Das ist sicher
ein Krankenhaus, rätselte er, alle wollen im Krankenhaus liegen, und so braucht man
viel Platz. […] Plötzlich fiel ihm ein, dass er keine Zeit hatte. […] Danach fand
er sich eine schwere Kiste durch eine ihm unbekannte, von Menschen wimmelnde
Strasse schleppen. Da er sich weder einen Weg durch die dichte Menge bahnen noch
seitlich ausweichen konnte, musste er notgedrungen Schritt für Schritt mitgehen,
gebremst durch die Leute vor sich, getrieben von denen, die hinter ihm gingen, und
schweißüberströmt wegen seiner schweren Last. […] Plötzlich war die Kiste mit we-
ggeworfenen Zeitungen voll. […] Von hinten stießen ihn die Leute vorwärts, von
vorn stießen sie ebenfalls, um ihn aufzuhalten. Aber jetzt fielen keine Zeitungen mehr
in die Kiste, sondern flache weiße Schindeln, die sich beim Fallen zu einer hohen
Schicht bis über seinen Kopf […]“ And the nightmare goes on and on. Gordweil
then turns to his son Martin for protection — real emotion, real love — but loses
him. His poetic imagination was just as unable to act as a protection against the chaos
of life.
What is striking is the scarcity of real representations of social life and of the visual
motives of the physical city itself. It is a flat city. As in the modern metropolis, the
coffee houses play a major role. Indeed, there is almost no cultural life in the novel
outside of the coffee houses. Gordweil’s usual coffee house was Herrenhof, by far the
most popular coffee house among Vienna’s cultural elite during the interwar years. It
was established by the coffeemaker Bela Waldmann right after the November 1918
revolution that transformed Austria into a republic. Among the regulars in the Her-
renhof were the members of the Viennese psychoanalytical establishment and the
literary community of interwar Vienna represented by Vicki Baum, Hermann Broch,
Robert Musil and Joseph Roth. Elias Canetti represented the younger writers and the
Prague contingent included Max Brod, Franz Werfel and occasionally Kafka.
None of all this has any echo in the novel. No artistic or intellectual life is men-
tioned. No decor. For Gordweil, the coffee house is a protection against the horror
of his tormentor — the city/ his wife. The city atmosphere is conveyed by countless
cigarettes and cups of coffee.
Ibid., pp. 336–338.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519