Page - 370 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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0 Bettina Riedmann
Nimmt dieser amüsante Protest gegen einen verengt ethnisierenden Blickwinkel,
unter dem allein der Tatsache große Bedeutung zugemessen wird, dass eine Person
bzw. literarische Figur von jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt, die Bedenken
eines Ernst Gombrich vorweg ?
Meiner Annäherung an Schnitzlers Selbstverständnis als Jude, im Zuge derer ich auch
auf diesen Brief noch einmal zurückkomme, seien zwei Vorbemerkungen vorangestellt.
Als Quellengrundlage dienen hier Schnitzlers Briefe, Aphorismen und Notizen, seine
Autobiografie, die allerdings nur bis ins Jahr 1889 reicht, und vor allem seine Tagebü-
cher, denen er – auch in Relation zu seinen literarischen Werken – eine überragende
Bedeutung zumaß. Die frühesten erhaltenen Tagebucheintragungen stammen aus dem
Jahr 1879, und zwischen dem Jahr 1900 und 1931, als er starb, finden sich nur 92 Tage,
an denen Schnitzler nichts schriftlich festhielt. Sein Journal und seine Briefe bieten in
ihrer Gesamtheit eine große Vielzahl von meist kurzen Passagen, in denen Schnitzler ver-
schiedenste Aspekte der jüdischen Problematik behandelt, streift oder auch nur indirekt
berührt, so dass die Erwähnungen, insbesondere was ihre Vielfalt und zeitliche Kontinui-
tät betrifft, zu einer einzigartigen Quelle für das Leben und die Identität eines jüdischen
Intellektuellen um die Jahrhundertwende werden. Die gesammelten Textstellen präsen-
tieren sich schließlich als Kaleidoskop, das von jüdischen Witzen über antisemitische
Bemerkungen der Nachbarskinder, die Weihnachtsfeierlichkeiten der Familie Schnitzler
bis hin zu Beobachtungen reicht, wie sich seine Zugehörigkeit zum Judentum auf sein
Wahlverhalten oder seine vermeintliche Talentlosigkeit als Dramatiker auswirkt.
Ohne auf die in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen geführte Debatte
über die Schwierigkeiten der Definition bzw. die generelle Fragwürdigkeit des komple-
xen Begriffs „Identität“ näher eingehen zu wollen, möchte ich eine kurze Bemerkung
Dieser wandte sich Ende der Neunzigerjahre (polemisch) gegen die Sonderstellung, die jüdischen Wis-
senschaftlern und Künstlern von der Forschung nach 1945 häufig zugewiesen wurde und wird. Gom-
brich äußerte bekanntlich die Meinung, „dass der Begriff der jüdischen Kultur von Hitler und seinen
Vor- und Nachläufern erfunden wurde“. Ernst H. Gombrich, Jüdische Identität und jüdisches Schicksal.
Eine Diskussionsbemerkung. Mit einer Einleitung von Emil Brix und einer Diskussionsdokumentation
von Frederick Baker, hg. von Emil Brix und Frederick Baker, Wien 1997 (Passagen Forum), S. 33. Er
lehnt die Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Persönlichkeiten des Fin de Siècle mit
der Begründung, diese Vorgangsweise überlasse er gerne der Gestapo, strikt ab. Dass Gombrich selbst
anschließend unter den berühmten Kunstschaffenden der Jahrhundertwende und an späterer Stelle
unter den Mitgliedern der sogenannten „Wiener Schule der Kunsthistoriker“ sowie des „Wiener Krei-
ses“ eine Reihe von bedeutenden Nichtjuden hervorhebt und somit sozusagen aus der entgegengesetzten
Richtung kommend in dieselbe Falle tappt, führt nur noch einmal die Verworrenheit dieser Problematik
vor Augen. Vgl. Ebd., S. 38f., S. 51f.
Diese Ausführungen basieren auf meiner Studie : Bettina Riedmann, „Ich bin Jude, Österreicher, Deut-
scher“. Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen, Tübingen 2002 (= Conditio Judaica 36).
Vgl. ebda. S. 4ff.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519