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Bettina Riedmann
Auch seine Verbundenheit mit der jüdischen Religion war eine sehr beschränkte. In
seiner Autobiografie beschreibt Schnitzler die häufigen Besuche bei seiner Großmutter
mütterlicherseits, deren Wohnung während seiner Jugend fast jeden Abend als Treff-
punkt für die ganze Verwandtschaft diente. Bei ihr wurde auch der Versöhnungstag
gefeiert, der Schnitzler besonders wegen des „gedeckte[n] Tisch[es] mit köstlichem,
rituell zubereitetem Backwerk reich beladen, [mit] ‚Boles‘ und Pfefferbretzeln, Mohn-
und Nußkindeln“, beeindruckte. „Schon die Feier des Laubhüttenfestes oder gar
eine Heiligung des Sabbats fand im großelterlichen Hause nicht statt ; und in den
folgenden Generationen trat – bei allem, oft trotzigen Betonen der Stammeszugehö-
rigkeit – gegenüber dem Geist jüdischer Religion eher Gleichgültigkeit, ihren äußeren
Formen gegenüber Widerstand, wenn nicht gar spöttisches Verhalten zutage.“
Hervorzuheben an dieser Äußerung ist genau jenes „Betonen der Stammeszugehörig-
keit“, das offenbar seine Sozialisation geprägt hat und das er später wiederum an seine
Kinder weiterzugeben versuchte. Dass er bei der Vermittlung dieses säkularen jüdischen
Bewusstseins auch auf die Hilfe jüdischer Religionslehrer angewiesen war, nahm er
in Kauf. Er engagierte einen privaten Hebräischlehrer für seinen Sohn Heinrich und
wandte sich sowohl persönlich als auch brieflich an Heinrichs Religionslehrer, um sich
gegen verpflichtende Tempelbesuche zu verwehren. Auch Lilis Religionsunterricht war
ihm ein Anliegen, und als diese im Alter von zwölf Jahren unter dem Einfluss des ka-
tholischen Kindermädchens und der Lektüre von Karl-May-Romanen Sympathien für
das Christentum entwickelte, zeigte sich der Vater wenig begeistert : „Ein Bild Jesus mit
der Dornenkrone, das Lili vom Reiterlein [= Kindermädchen] erhalten, gab Anlaß zu
einem ernsthaften Gespräch mit ihr ; ihr Verhältnis zum Katholizismus, zur Religion
überhaupt ; ihre Stellung als Jüdin, als meine Tochter u. s. w.; sie verstand alles. –“9
Auch die Tatsache, dass Schnitzler beispielsweise jüdische Gaststätten, jiddische
bzw. hebräische Theateraufführungen besuchte, eine Lesung im jüdischen Volksbil-
dungshaus in der Brigittenau hielt oder immer wieder sowohl Sach- als auch belle-
tristische Bücher las, die jüdische Themen zum Inhalt haben, macht deutlich, dass
das Alltagsleben dieses dezidiert areligiösen, akkulturierten Juden sehr wohl von jüdi-
schen Elementen geprägt war.
Dass dieses säkulare Selbstverständnis als Jude mit einer ständigen intensiven Aus-
einandersetzung mit sowohl gegen ihn selbst als auch gegen andere gerichtete antise-
mitischen Anfeindungen verbunden war, davon zeugen eine Unzahl von Textstellen.
Ebd., S. 18.
Ebd., S. 18f.
Arthur Schnitzler, Tagebuch 1920–1922, hg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter dem Obmann Werner Welzig, unter Mitwirkung
von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach, Wien 1993, 7.1.1922.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Title
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Subtitle
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Author
- Frank Stern
- Editor
- Barabara Eichinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 558
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519